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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Glückseeligkeit des Menschen.
57.

Wo wollen wir aber nunmehro die gröste
Glückseeligkeit des Menschen suchen/ nachdem
selbige weder in dem Verstande noch dem Wil-
len des Menschen zu finden ist/ und wir nun-
mehro keinen Theil des Menschen nicht mehr
übrig haben. So wird vielleicht diese gröste
Glückseeligkeit nur in einer eitelen Einbildung
und in blossen Gedancken bestehen?

58.

Du hast recht mein Freund/ ob du dich
gleich sehr irrest. Es bestehet ja die gröste Glück-
seeligkeit in denen Gedancken und in der Ein-
bildung
aber nicht in blossen Gedancken und
in einer eitelen Einbildung. Und so wenig
als wir in der Vernunfft-Lehre das wahre in
denen blossen Sinnligkeiten/ noch in denen blos-
sen ideis, sondern in beyden zugleich suchen müs-
sen/ so wenig müssen wir auch die gröste Glück-
seeligkeit in dem Verstande oder Willen allei-
ne/ sondern in beyden zu sammen/ das ist in der
nein, Gedancken suchen.
Denn der Verstand
und Wille dencken allebeyde/ und wenn wir
alles beydes zusammen nehmen/ pfleget man es
das Gemüthe des Menschen
zu nennen.

59.

Ohne die Gedancken hat der Mensch
keine Empfindung auch von der geringsten
Glückseeligkeit/ noch von einigen Unglück/

welches man gar leicht begreiffen kan/ wenn man
sich nur das Exempel eines neugebohrnen Kindes
eines rasenden/ eines höchsttrunckenen und in ei-
nem sehr tieffen Schlaffe liegenden Menschen

vor-
F 2
Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
57.

Wo wollen wir aber nunmehro die groͤſte
Gluͤckſeeligkeit des Menſchen ſuchen/ nachdem
ſelbige weder in dem Verſtande noch dem Wil-
len des Menſchen zu finden iſt/ und wir nun-
mehro keinen Theil des Menſchen nicht mehr
uͤbrig haben. So wird vielleicht dieſe groͤſte
Gluͤckſeeligkeit nur in einer eitelen Einbildung
und in bloſſen Gedancken beſtehen?

58.

Du haſt recht mein Freund/ ob du dich
gleich ſehr irreſt. Es beſtehet ja die groͤſte Gluͤck-
ſeeligkeit in denen Gedancken und in der Ein-
bildung
aber nicht in bloſſen Gedancken und
in einer eitelen Einbildung. Und ſo wenig
als wir in der Vernunfft-Lehre das wahre in
denen bloſſen Sinnligkeiten/ noch in denen bloſ-
ſen ideis, ſondern in beyden zugleich ſuchen muͤſ-
ſen/ ſo wenig muͤſſen wir auch die groͤſte Gluͤck-
ſeeligkeit in dem Verſtande oder Willen allei-
ne/ ſondern in beyden zu ſammen/ das iſt in der
nein, Gedancken ſuchen.
Denn der Verſtand
und Wille dencken allebeyde/ und wenn wir
alles beydes zuſammen nehmen/ pfleget man es
das Gemuͤthe des Menſchen
zu nennen.

59.

Ohne die Gedancken hat der Menſch
keine Empfindung auch von der geringſten
Gluͤckſeeligkeit/ noch von einigen Ungluͤck/

welches man gar leicht begreiffen kan/ wenn man
ſich nur das Exempel eines neugebohrnen Kindes
eines raſenden/ eines hoͤchſttrunckenen und in ei-
nem ſehr tieffen Schlaffe liegenden Menſchen

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F 2
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[83/0115] Gluͤckſeeligkeit des Menſchen. 57. Wo wollen wir aber nunmehro die groͤſte Gluͤckſeeligkeit des Menſchen ſuchen/ nachdem ſelbige weder in dem Verſtande noch dem Wil- len des Menſchen zu finden iſt/ und wir nun- mehro keinen Theil des Menſchen nicht mehr uͤbrig haben. So wird vielleicht dieſe groͤſte Gluͤckſeeligkeit nur in einer eitelen Einbildung und in bloſſen Gedancken beſtehen? 58. Du haſt recht mein Freund/ ob du dich gleich ſehr irreſt. Es beſtehet ja die groͤſte Gluͤck- ſeeligkeit in denen Gedancken und in der Ein- bildung aber nicht in bloſſen Gedancken und in einer eitelen Einbildung. Und ſo wenig als wir in der Vernunfft-Lehre das wahre in denen bloſſen Sinnligkeiten/ noch in denen bloſ- ſen ideis, ſondern in beyden zugleich ſuchen muͤſ- ſen/ ſo wenig muͤſſen wir auch die groͤſte Gluͤck- ſeeligkeit in dem Verſtande oder Willen allei- ne/ ſondern in beyden zu ſammen/ das iſt in der nein, Gedancken ſuchen. Denn der Verſtand und Wille dencken allebeyde/ und wenn wir alles beydes zuſammen nehmen/ pfleget man es das Gemuͤthe des Menſchen zu nennen. 59. Ohne die Gedancken hat der Menſch keine Empfindung auch von der geringſten Gluͤckſeeligkeit/ noch von einigen Ungluͤck/ welches man gar leicht begreiffen kan/ wenn man ſich nur das Exempel eines neugebohrnen Kindes eines raſenden/ eines hoͤchſttrunckenen und in ei- nem ſehr tieffen Schlaffe liegenden Menſchen vor- F 2

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/115>, abgerufen am 19.04.2024.