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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Das 4. Hauptst. von der vernünfftigen
in der Freundschafft als Liebe der geliebten Person
wechselsweise dieselbe zu erkennen.

37.

Z. e. Wenn ein tugendhaffter Mensch
ein tugendhafftes und verftändiges Frauen-Zim-
mer lieb gewinnet/ und seine Seele mit der ihri-
gen zuvereinigen trachtet/ so bemühen sie sich
beyderseits/ nachdem sie durch einen mit Ehr-
furcht und Verlangen vermischten Blick/ oder
durch einen hertzlichen Seufftzer einander gleich-
sam die Losung gegeben/ einander durch tausend
kleine Gefälligkeiten nicht nur ihren Willen
Wechselsweise gleichsam an den Augen anzu
sehen/ sondern auch so zureden denselben noch
vorzukommen/ geschweige denn/ daß sie nicht
durch das äusscrliche Thun und Lassen einan-
der in dem/ was eines von dem andern deutlich
begehret/ zugefallen seyn solten.

38.

Wer wolte aber sagen/ daß in diesen
kleinen Gefälligkeiten das Wesen der Liebe
oder Freundschafft bestehe; Die zum öfftern/
wenn man sie ihren Werth und Nutzen nach
betrachtet/ so geringe sind/ das man sich schä-
men müste wenn man sie dem andern als ei-
nen Liebes-Dienst anrechnen wolte/ und die
ihren gantzen Werth von der Freywilligkeit und
Ungezwungenheit oder der auffrichtigen Erniedri-
gung einer mit vielen Meriten begabten Person
erlangen? Zumahl da in Gegentheil nach dem
Tax der Liebe auch die kostbarsten Bezeugun-
gen/ und die tieffesten Erniedrigungen nichts gel-

ten

Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
in der Freundſchafft als Liebe der geliebten Perſon
wechſelsweiſe dieſelbe zu erkennen.

37.

Z. e. Wenn ein tugendhaffter Menſch
ein tugendhafftes und verftaͤndiges Frauen-Zim-
mer lieb gewinnet/ und ſeine Seele mit der ihri-
gen zuvereinigen trachtet/ ſo bemuͤhen ſie ſich
beyderſeits/ nachdem ſie durch einen mit Ehr-
furcht und Verlangen vermiſchten Blick/ oder
durch einen hertzlichen Seufftzer einander gleich-
ſam die Loſung gegeben/ einander durch tauſend
kleine Gefaͤlligkeiten nicht nur ihren Willen
Wechſelsweiſe gleichſam an den Augen anzu
ſehen/ ſondern auch ſo zureden denſelben noch
vorzukommen/ geſchweige denn/ daß ſie nicht
durch das aͤuſſcrliche Thun und Laſſen einan-
der in dem/ was eines von dem andern deutlich
begehret/ zugefallen ſeyn ſolten.

38.

Wer wolte aber ſagen/ daß in dieſen
kleinen Gefaͤlligkeiten das Weſen der Liebe
oder Freundſchafft beſtehe; Die zum oͤfftern/
wenn man ſie ihren Werth und Nutzen nach
betrachtet/ ſo geringe ſind/ das man ſich ſchaͤ-
men muͤſte wenn man ſie dem andern als ei-
nen Liebes-Dienſt anrechnen wolte/ und die
ihren gantzen Werth von der Freywilligkeit und
Ungezwungenheit oder der auffrichtigen Erniedri-
gung einer mit vielen Meriten begabten Perſon
erlangen? Zumahl da in Gegentheil nach dem
Tax der Liebe auch die koſtbarſten Bezeugun-
gen/ und die tieffeſten Erniedrigungen nichts gel-

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[174/0206] Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen in der Freundſchafft als Liebe der geliebten Perſon wechſelsweiſe dieſelbe zu erkennen. 37. Z. e. Wenn ein tugendhaffter Menſch ein tugendhafftes und verftaͤndiges Frauen-Zim- mer lieb gewinnet/ und ſeine Seele mit der ihri- gen zuvereinigen trachtet/ ſo bemuͤhen ſie ſich beyderſeits/ nachdem ſie durch einen mit Ehr- furcht und Verlangen vermiſchten Blick/ oder durch einen hertzlichen Seufftzer einander gleich- ſam die Loſung gegeben/ einander durch tauſend kleine Gefaͤlligkeiten nicht nur ihren Willen Wechſelsweiſe gleichſam an den Augen anzu ſehen/ ſondern auch ſo zureden denſelben noch vorzukommen/ geſchweige denn/ daß ſie nicht durch das aͤuſſcrliche Thun und Laſſen einan- der in dem/ was eines von dem andern deutlich begehret/ zugefallen ſeyn ſolten. 38. Wer wolte aber ſagen/ daß in dieſen kleinen Gefaͤlligkeiten das Weſen der Liebe oder Freundſchafft beſtehe; Die zum oͤfftern/ wenn man ſie ihren Werth und Nutzen nach betrachtet/ ſo geringe ſind/ das man ſich ſchaͤ- men muͤſte wenn man ſie dem andern als ei- nen Liebes-Dienſt anrechnen wolte/ und die ihren gantzen Werth von der Freywilligkeit und Ungezwungenheit oder der auffrichtigen Erniedri- gung einer mit vielen Meriten begabten Perſon erlangen? Zumahl da in Gegentheil nach dem Tax der Liebe auch die koſtbarſten Bezeugun- gen/ und die tieffeſten Erniedrigungen nichts gel- ten

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/206>, abgerufen am 16.04.2024.