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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Wahrheit und ergreife uns nur darum, weil diese
Allegorie im letzten Hintergrunde als Halt dem
Ganzen dient, und eben darum sind auch Dan-
te's Allegorien so überzeugend, weil sie sich bis
zur greiflichsten Wirklichkeit durchgearbeitet haben.
Novalis sagt: nur die Geschichte ist eine Ge-
schichte, die auch Fabel sein kann. Doch giebt
es auch viele kranke und schwache Dichtungen
dieser Art, die uns nur in Begriffen herum schlep-
pen, ohne unsre Phantasie mit zu nehmen, und
diese sind die ermüdendste Unterhaltung. -- Allein
Anton mag uns jetzt sein einleitendes Gedicht
vorlesen, welches er uns versprochen hat.

Anton zog einige Blätter hervor und las:

Phantasus.
Betrübt saß ich in meiner Kammer,
Dacht' an die Noth, an all den Jammer
Der rund um drückt die weite Erde,
Daß man nur schaut Trauergeberde,
Daß Luft und Sang und frohe Weisen
Gezogen weit von uns auf Reisen,
Daß Argwohn, Mißtraun unsre Gäste,
Und Furcht und Angst bei jedem Feste,
Daß jedermann nur frägt in Sorgen:
Wie wird es mit dir heut und morgen?
Dazu war ich noch schwach und krank,
Mir war so Tag wie Nacht zu lang;

Erſte Abtheilung.
Wahrheit und ergreife uns nur darum, weil dieſe
Allegorie im letzten Hintergrunde als Halt dem
Ganzen dient, und eben darum ſind auch Dan-
te's Allegorien ſo uͤberzeugend, weil ſie ſich bis
zur greiflichſten Wirklichkeit durchgearbeitet haben.
Novalis ſagt: nur die Geſchichte iſt eine Ge-
ſchichte, die auch Fabel ſein kann. Doch giebt
es auch viele kranke und ſchwache Dichtungen
dieſer Art, die uns nur in Begriffen herum ſchlep-
pen, ohne unſre Phantaſie mit zu nehmen, und
dieſe ſind die ermuͤdendſte Unterhaltung. — Allein
Anton mag uns jetzt ſein einleitendes Gedicht
vorleſen, welches er uns verſprochen hat.

Anton zog einige Blaͤtter hervor und las:

Phantaſus.
Betruͤbt ſaß ich in meiner Kammer,
Dacht' an die Noth, an all den Jammer
Der rund um druͤckt die weite Erde,
Daß man nur ſchaut Trauergeberde,
Daß Luft und Sang und frohe Weiſen
Gezogen weit von uns auf Reiſen,
Daß Argwohn, Mißtraun unſre Gaͤſte,
Und Furcht und Angſt bei jedem Feſte,
Daß jedermann nur fraͤgt in Sorgen:
Wie wird es mit dir heut und morgen?
Dazu war ich noch ſchwach und krank,
Mir war ſo Tag wie Nacht zu lang;
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[150/0161] Erſte Abtheilung. Wahrheit und ergreife uns nur darum, weil dieſe Allegorie im letzten Hintergrunde als Halt dem Ganzen dient, und eben darum ſind auch Dan- te's Allegorien ſo uͤberzeugend, weil ſie ſich bis zur greiflichſten Wirklichkeit durchgearbeitet haben. Novalis ſagt: nur die Geſchichte iſt eine Ge- ſchichte, die auch Fabel ſein kann. Doch giebt es auch viele kranke und ſchwache Dichtungen dieſer Art, die uns nur in Begriffen herum ſchlep- pen, ohne unſre Phantaſie mit zu nehmen, und dieſe ſind die ermuͤdendſte Unterhaltung. — Allein Anton mag uns jetzt ſein einleitendes Gedicht vorleſen, welches er uns verſprochen hat. Anton zog einige Blaͤtter hervor und las: Phantaſus. Betruͤbt ſaß ich in meiner Kammer, Dacht' an die Noth, an all den Jammer Der rund um druͤckt die weite Erde, Daß man nur ſchaut Trauergeberde, Daß Luft und Sang und frohe Weiſen Gezogen weit von uns auf Reiſen, Daß Argwohn, Mißtraun unſre Gaͤſte, Und Furcht und Angſt bei jedem Feſte, Daß jedermann nur fraͤgt in Sorgen: Wie wird es mit dir heut und morgen? Dazu war ich noch ſchwach und krank, Mir war ſo Tag wie Nacht zu lang;

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/161>, abgerufen am 29.03.2024.