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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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denkenden Organe abhängig und hierdurch in eine neue
Ordnung gebracht wird, die dann freilich einfacher ist, weil
sie (wenn möglich) aus lauter gleichen oder doch (im geome-
trischen Sinne) ähnlichen Elementen, nämlich aus selbst-
gemachten, zusammengesetzt ist. So kömmt es, dass im
Menschen, wie er sich des Vergangenen erinnert und durch
sein Denken unzählige Bildempfindungen festhält, die nach
ihrem inneren Zusammenhange und angeregt durch gegebene
Reize, in ihm wechselnd auftauchen, jene "Priorität des
Willens" nur daraus erkennbar ist, dass auch die Abhängig-
keit solcher Gedächtniss- oder Fantasiethätigkeit von dem
verzweigten Systeme der Neigungen und Abneigungen ge-
sehen wird. Wir werden leicht hierüber getäuscht, weil
alle intellectuellen Vorgänge erst die Gefühle, Begehrungen
u. s. w. hervorzurufen scheinen. In Wahrheit aber
wiederholen sich hier immer die Processe der Differen-
zirung und Verknüpfung gegebener Tendenzen und der
Uebergang aus einem Gleichgewichts- in einen Bewegungs-
zustand, indem Bewegung zu dem wahrgenommenen oder
vorgestellten Gegenstande (oder bloss Orte) hingezogen oder
davon abgestossen wird. Hingegen ist die Spannung und
Aufmerksamkeit, daher auch die Schärfe der Sinne wesent-
lich bedingt durch die vorhandenen Antriebe und deren
Erregungszustand in Thätigkeiten und so auch Vorstel-
lungen und Gedanken: das Tichten wird bestimmt durch
das Trachten; je nach dem Zusammenhange mit unseren
Wünschen, unserem Gefallen und Missfallen, unseren Hoff-
nungen und Befürchtungen, kurz: mit allen lust- oder
schmerzhaften Zuständen, denken und träumen wir häufig,
leicht und gern das Eine, Anderes selten und ungern.
Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass doch die trüben
und unangenehmen Vorstellungen einen wenigstens ebenso
grossen Raum in unserem Bewusstsein einnehmen mit den
heiteren und angenehmen; denn solche Vorstellungen können
selber als Schmerzgefühle betrachtet werden, und insofern
als sie es sind, so wehrt sich dagegen der Organismus oder
der Gesammtwille und ringt sie loszuwerden, was nicht
verhindert, dass in den Vorstellungen Stücke enthalten sind,
welche mit Lust empfunden werden, ja in welchen "die
Seele schwelgt".

denkenden Organe abhängig und hierdurch in eine neue
Ordnung gebracht wird, die dann freilich einfacher ist, weil
sie (wenn möglich) aus lauter gleichen oder doch (im geome-
trischen Sinne) ähnlichen Elementen, nämlich aus selbst-
gemachten, zusammengesetzt ist. So kömmt es, dass im
Menschen, wie er sich des Vergangenen erinnert und durch
sein Denken unzählige Bildempfindungen festhält, die nach
ihrem inneren Zusammenhange und angeregt durch gegebene
Reize, in ihm wechselnd auftauchen, jene »Priorität des
Willens« nur daraus erkennbar ist, dass auch die Abhängig-
keit solcher Gedächtniss- oder Fantasiethätigkeit von dem
verzweigten Systeme der Neigungen und Abneigungen ge-
sehen wird. Wir werden leicht hierüber getäuscht, weil
alle intellectuellen Vorgänge erst die Gefühle, Begehrungen
u. s. w. hervorzurufen scheinen. In Wahrheit aber
wiederholen sich hier immer die Processe der Differen-
zirung und Verknüpfung gegebener Tendenzen und der
Uebergang aus einem Gleichgewichts- in einen Bewegungs-
zustand, indem Bewegung zu dem wahrgenommenen oder
vorgestellten Gegenstande (oder bloss Orte) hingezogen oder
davon abgestossen wird. Hingegen ist die Spannung und
Aufmerksamkeit, daher auch die Schärfe der Sinne wesent-
lich bedingt durch die vorhandenen Antriebe und deren
Erregungszustand in Thätigkeiten und so auch Vorstel-
lungen und Gedanken: das Tichten wird bestimmt durch
das Trachten; je nach dem Zusammenhange mit unseren
Wünschen, unserem Gefallen und Missfallen, unseren Hoff-
nungen und Befürchtungen, kurz: mit allen lust- oder
schmerzhaften Zuständen, denken und träumen wir häufig,
leicht und gern das Eine, Anderes selten und ungern.
Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass doch die trüben
und unangenehmen Vorstellungen einen wenigstens ebenso
grossen Raum in unserem Bewusstsein einnehmen mit den
heiteren und angenehmen; denn solche Vorstellungen können
selber als Schmerzgefühle betrachtet werden, und insofern
als sie es sind, so wehrt sich dagegen der Organismus oder
der Gesammtwille und ringt sie loszuwerden, was nicht
verhindert, dass in den Vorstellungen Stücke enthalten sind,
welche mit Lust empfunden werden, ja in welchen »die
Seele schwelgt«.

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[140/0176] denkenden Organe abhängig und hierdurch in eine neue Ordnung gebracht wird, die dann freilich einfacher ist, weil sie (wenn möglich) aus lauter gleichen oder doch (im geome- trischen Sinne) ähnlichen Elementen, nämlich aus selbst- gemachten, zusammengesetzt ist. So kömmt es, dass im Menschen, wie er sich des Vergangenen erinnert und durch sein Denken unzählige Bildempfindungen festhält, die nach ihrem inneren Zusammenhange und angeregt durch gegebene Reize, in ihm wechselnd auftauchen, jene »Priorität des Willens« nur daraus erkennbar ist, dass auch die Abhängig- keit solcher Gedächtniss- oder Fantasiethätigkeit von dem verzweigten Systeme der Neigungen und Abneigungen ge- sehen wird. Wir werden leicht hierüber getäuscht, weil alle intellectuellen Vorgänge erst die Gefühle, Begehrungen u. s. w. hervorzurufen scheinen. In Wahrheit aber wiederholen sich hier immer die Processe der Differen- zirung und Verknüpfung gegebener Tendenzen und der Uebergang aus einem Gleichgewichts- in einen Bewegungs- zustand, indem Bewegung zu dem wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstande (oder bloss Orte) hingezogen oder davon abgestossen wird. Hingegen ist die Spannung und Aufmerksamkeit, daher auch die Schärfe der Sinne wesent- lich bedingt durch die vorhandenen Antriebe und deren Erregungszustand in Thätigkeiten und so auch Vorstel- lungen und Gedanken: das Tichten wird bestimmt durch das Trachten; je nach dem Zusammenhange mit unseren Wünschen, unserem Gefallen und Missfallen, unseren Hoff- nungen und Befürchtungen, kurz: mit allen lust- oder schmerzhaften Zuständen, denken und träumen wir häufig, leicht und gern das Eine, Anderes selten und ungern. Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass doch die trüben und unangenehmen Vorstellungen einen wenigstens ebenso grossen Raum in unserem Bewusstsein einnehmen mit den heiteren und angenehmen; denn solche Vorstellungen können selber als Schmerzgefühle betrachtet werden, und insofern als sie es sind, so wehrt sich dagegen der Organismus oder der Gesammtwille und ringt sie loszuwerden, was nicht verhindert, dass in den Vorstellungen Stücke enthalten sind, welche mit Lust empfunden werden, ja in welchen »die Seele schwelgt«.

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/176>, abgerufen am 25.04.2024.