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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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seines Gebietes mit Recht thun könne, was er wolle, aber
nichts jenseit desselben. Daher: wo dennoch ein gemein-
sames Gebiet entsteht, wie in der dauernden Obligation und
in der Societät, da muss die Freiheit selber, als Inbegriff
der Rechte, in Bezug darauf zu schalten, getheilt sein, oder
aber eine neue künstliche und fingirte Freiheit hergestellt
werden. Die einfache Form des allgemeinen gesellschaftlichen
Willens, welcher dieses Naturrecht setzt, nenne ich Con-
vention.
Es können positive Bestimmungen und Regeln
aller Art als conventionell erkannt werden, die ihrem Ur-
sprunge nach von ganz verschiedenem Stile sind, so dass
Convention oft als Synonym von Herkommen oder Sitte be-
griffen wird. Aber alles, was dem Herkommen oder der
Sitte entspringt, ist nur conventionell, insofern als es um
des allgemeinen Nutzens willen, und der allgemeine Nutzen
von Jedem um seines eigenen Nutzens willen gewollt und
erhalten wird. Es wird also nicht mehr aus dem
Grunde
der Ueberlieferung, als heiliges Erbe der Vor-
fahren, gewollt. Und folglich ist es nicht mehr Herkommen
oder Sitte zu heissen würdig.

§ 25.

Gesellschaft also, durch Convention und Naturrecht
einiges Aggregat, wird begriffen als eine Menge von natür-
lichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete
in zahlreichen Beziehungen zu einander und in zahlreichen
Verbindungen mit einander stehen, und doch von einander
unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen
bleiben. Und hier ergibt sich die allgemeine Beschreibung
der "bürgerlichen Gesellschaft" oder "Tauschgesellschaft",
deren Natur und Bewegungen die politische Oekonomie zu
erkennen beflissen ist: eines Zustandes, worin nach dem
Ausdrucke des Adam Smith "Jedermann ein Kaufmann
ist". Daher denn, wo eigentlich kaufmännische Individuen,
Geschäfte oder Firmen und Compagnieen, einander gegen-
überstehen, in dem internationalen oder nationalen Markt-
und Börsenverkehr, die Natur der Gesellschaft wie in einem
Extracte oder wie im Hohlspiegel sich darstellt. Denn die
Allgemeinheit dieses Zustandes ist doch keineswegs, wie der

seines Gebietes mit Recht thun könne, was er wolle, aber
nichts jenseit desselben. Daher: wo dennoch ein gemein-
sames Gebiet entsteht, wie in der dauernden Obligation und
in der Societät, da muss die Freiheit selber, als Inbegriff
der Rechte, in Bezug darauf zu schalten, getheilt sein, oder
aber eine neue künstliche und fingirte Freiheit hergestellt
werden. Die einfache Form des allgemeinen gesellschaftlichen
Willens, welcher dieses Naturrecht setzt, nenne ich Con-
vention.
Es können positive Bestimmungen und Regeln
aller Art als conventionell erkannt werden, die ihrem Ur-
sprunge nach von ganz verschiedenem Stile sind, so dass
Convention oft als Synonym von Herkommen oder Sitte be-
griffen wird. Aber alles, was dem Herkommen oder der
Sitte entspringt, ist nur conventionell, insofern als es um
des allgemeinen Nutzens willen, und der allgemeine Nutzen
von Jedem um seines eigenen Nutzens willen gewollt und
erhalten wird. Es wird also nicht mehr aus dem
Grunde
der Ueberlieferung, als heiliges Erbe der Vor-
fahren, gewollt. Und folglich ist es nicht mehr Herkommen
oder Sitte zu heissen würdig.

§ 25.

Gesellschaft also, durch Convention und Naturrecht
einiges Aggregat, wird begriffen als eine Menge von natür-
lichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete
in zahlreichen Beziehungen zu einander und in zahlreichen
Verbindungen mit einander stehen, und doch von einander
unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen
bleiben. Und hier ergibt sich die allgemeine Beschreibung
der »bürgerlichen Gesellschaft« oder »Tauschgesellschaft«,
deren Natur und Bewegungen die politische Oekonomie zu
erkennen beflissen ist: eines Zustandes, worin nach dem
Ausdrucke des Adam Smith »Jedermann ein Kaufmann
ist«. Daher denn, wo eigentlich kaufmännische Individuen,
Geschäfte oder Firmen und Compagnieen, einander gegen-
überstehen, in dem internationalen oder nationalen Markt-
und Börsenverkehr, die Natur der Gesellschaft wie in einem
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[60/0096] seines Gebietes mit Recht thun könne, was er wolle, aber nichts jenseit desselben. Daher: wo dennoch ein gemein- sames Gebiet entsteht, wie in der dauernden Obligation und in der Societät, da muss die Freiheit selber, als Inbegriff der Rechte, in Bezug darauf zu schalten, getheilt sein, oder aber eine neue künstliche und fingirte Freiheit hergestellt werden. Die einfache Form des allgemeinen gesellschaftlichen Willens, welcher dieses Naturrecht setzt, nenne ich Con- vention. Es können positive Bestimmungen und Regeln aller Art als conventionell erkannt werden, die ihrem Ur- sprunge nach von ganz verschiedenem Stile sind, so dass Convention oft als Synonym von Herkommen oder Sitte be- griffen wird. Aber alles, was dem Herkommen oder der Sitte entspringt, ist nur conventionell, insofern als es um des allgemeinen Nutzens willen, und der allgemeine Nutzen von Jedem um seines eigenen Nutzens willen gewollt und erhalten wird. Es wird also nicht mehr aus dem Grunde der Ueberlieferung, als heiliges Erbe der Vor- fahren, gewollt. Und folglich ist es nicht mehr Herkommen oder Sitte zu heissen würdig. § 25. Gesellschaft also, durch Convention und Naturrecht einiges Aggregat, wird begriffen als eine Menge von natür- lichen und künstlichen Individuen, deren Willen und Gebiete in zahlreichen Beziehungen zu einander und in zahlreichen Verbindungen mit einander stehen, und doch von einander unabhängig und ohne gegenseitige innere Einwirkungen bleiben. Und hier ergibt sich die allgemeine Beschreibung der »bürgerlichen Gesellschaft« oder »Tauschgesellschaft«, deren Natur und Bewegungen die politische Oekonomie zu erkennen beflissen ist: eines Zustandes, worin nach dem Ausdrucke des Adam Smith »Jedermann ein Kaufmann ist«. Daher denn, wo eigentlich kaufmännische Individuen, Geschäfte oder Firmen und Compagnieen, einander gegen- überstehen, in dem internationalen oder nationalen Markt- und Börsenverkehr, die Natur der Gesellschaft wie in einem Extracte oder wie im Hohlspiegel sich darstellt. Denn die Allgemeinheit dieses Zustandes ist doch keineswegs, wie der

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/96>, abgerufen am 28.03.2024.