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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
des deutschen Reichs, mit allen Mitteln rücksichtsloser Selbstsucht, immer
bereit die Front zu wechseln, immer mit zwei Sehnen am Bogen.

Kurbrandenburg empfand bis in das Mark seines Lebens, wie tief
das ausländische Wesen sich in Deutschland eingefressen hatte. Alle die
zuchtlosen Kräfte ständischer Libertät, welche der strengen Ordnung der
neuen Monarchie widerstrebten, stützten sich auf fremden Beistand. Hol-
ländische Garnisonen lagen am Niederrhein und begünstigten den Kampf
der clevischen Stände wider den deutschen Landesherrn, die Landtage
von Magdeburg und der Kurmark rechneten auf Oesterreich, der polenzende
Adel in Königsberg rief den polnischen Oberlehnsherrn zu Hilfe gegen
den märkischen Despotismus. Im Kampfe mit der Fremdherrschaft
wurde die Staatseinheit dieser zerstreuten Gebiete und das Ansehen ihres
Landesherrn begründet. Friedrich Wilhelm zerstörte die Barriere der
Niederländer im deutschen Nordwesten, vertrieb ihre Truppen aus Cleve
und Ostfriesland; er befreite Altpreußen von der polnischen Lehenshoheit
und beugte den Königsberger Landtag unter seine Souveränität. Dann
ruft er der tauben Nation sein Mahnwort zu: "Gedenke, daß du ein
Deutscher bist!" und versucht die Schweden vom Reichsboden zu ver-
drängen. Zweimal gelang der Mißgunst Frankreichs und Oesterreichs, den
Brandenburger um den Lohn seiner Siege, um die Herrschaft in Pommern
zu betrügen; den Ruhm des Tages von Fehrbellin konnten sie ihm nicht
rauben. Endlich wieder, nach langen Jahrzehnten der Schande, ein glän-
zender Triumph deutscher Waffen über die erste Kriegsmacht der Zeit; die
Welt erfuhr, daß Deutschland wieder wage sein Hausrecht zu wahren. Der
Erbe der deutschen Kirchenpolitik Gustav Adolfs zersprengte den verwegenen
Bau des skandinavischen Ostseereiches, den das Schwert jenes Schweden-
königs zusammengefügt. Die beiden künstlichen Großmächte des siebzehnten
Jahrhunderts, Schweden und Holland, begannen zurückzutreten in ihre
natürlichen Schranken, und der neue Staat, der sich an ihrer Stelle
erhob, zeigte weder die ausschweifende Eroberungslust der schwedischen
Militärmacht noch den monopolsüchtigen Kaufmannsgeist der Niederländer.
Er war deutsch, er begnügte sich das Gebiet seiner Nation zu schirmen
und vertrat gegen die Weltherrschaftspläne der Bourbonen den Gedanken
des europäischen Gleichgewichts, der Staatenfreiheit. Als die Republik
der Niederlande dem Angriff Ludwigs XIV. zu erliegen drohte, da fiel
Brandenburg dem Eroberer in den erhobenen Arm; Friedrich Wilhelm
führte den einzigen ernsthaften Krieg, den das Reich zur Wiederer-
oberung des Elsasses gewagt hat, und noch auf seinem Sterbebette entwarf
er mit seinem oranischen Neffen den Plan, das evangelische und parla-
mentarische England zu retten vor der Willkür der Stuarts, der Vasallen
Ludwigs. Ueberall wo diese junge Macht allein stand kämpfte sie siegreich,
überall unglücklich wo sie dem Wirrwarr des Reichsheeres sich anschließen
mußte.

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
des deutſchen Reichs, mit allen Mitteln rückſichtsloſer Selbſtſucht, immer
bereit die Front zu wechſeln, immer mit zwei Sehnen am Bogen.

Kurbrandenburg empfand bis in das Mark ſeines Lebens, wie tief
das ausländiſche Weſen ſich in Deutſchland eingefreſſen hatte. Alle die
zuchtloſen Kräfte ſtändiſcher Libertät, welche der ſtrengen Ordnung der
neuen Monarchie widerſtrebten, ſtützten ſich auf fremden Beiſtand. Hol-
ländiſche Garniſonen lagen am Niederrhein und begünſtigten den Kampf
der cleviſchen Stände wider den deutſchen Landesherrn, die Landtage
von Magdeburg und der Kurmark rechneten auf Oeſterreich, der polenzende
Adel in Königsberg rief den polniſchen Oberlehnsherrn zu Hilfe gegen
den märkiſchen Despotismus. Im Kampfe mit der Fremdherrſchaft
wurde die Staatseinheit dieſer zerſtreuten Gebiete und das Anſehen ihres
Landesherrn begründet. Friedrich Wilhelm zerſtörte die Barriere der
Niederländer im deutſchen Nordweſten, vertrieb ihre Truppen aus Cleve
und Oſtfriesland; er befreite Altpreußen von der polniſchen Lehenshoheit
und beugte den Königsberger Landtag unter ſeine Souveränität. Dann
ruft er der tauben Nation ſein Mahnwort zu: „Gedenke, daß du ein
Deutſcher biſt!“ und verſucht die Schweden vom Reichsboden zu ver-
drängen. Zweimal gelang der Mißgunſt Frankreichs und Oeſterreichs, den
Brandenburger um den Lohn ſeiner Siege, um die Herrſchaft in Pommern
zu betrügen; den Ruhm des Tages von Fehrbellin konnten ſie ihm nicht
rauben. Endlich wieder, nach langen Jahrzehnten der Schande, ein glän-
zender Triumph deutſcher Waffen über die erſte Kriegsmacht der Zeit; die
Welt erfuhr, daß Deutſchland wieder wage ſein Hausrecht zu wahren. Der
Erbe der deutſchen Kirchenpolitik Guſtav Adolfs zerſprengte den verwegenen
Bau des ſkandinaviſchen Oſtſeereiches, den das Schwert jenes Schweden-
königs zuſammengefügt. Die beiden künſtlichen Großmächte des ſiebzehnten
Jahrhunderts, Schweden und Holland, begannen zurückzutreten in ihre
natürlichen Schranken, und der neue Staat, der ſich an ihrer Stelle
erhob, zeigte weder die ausſchweifende Eroberungsluſt der ſchwediſchen
Militärmacht noch den monopolſüchtigen Kaufmannsgeiſt der Niederländer.
Er war deutſch, er begnügte ſich das Gebiet ſeiner Nation zu ſchirmen
und vertrat gegen die Weltherrſchaftspläne der Bourbonen den Gedanken
des europäiſchen Gleichgewichts, der Staatenfreiheit. Als die Republik
der Niederlande dem Angriff Ludwigs XIV. zu erliegen drohte, da fiel
Brandenburg dem Eroberer in den erhobenen Arm; Friedrich Wilhelm
führte den einzigen ernſthaften Krieg, den das Reich zur Wiederer-
oberung des Elſaſſes gewagt hat, und noch auf ſeinem Sterbebette entwarf
er mit ſeinem oraniſchen Neffen den Plan, das evangeliſche und parla-
mentariſche England zu retten vor der Willkür der Stuarts, der Vaſallen
Ludwigs. Ueberall wo dieſe junge Macht allein ſtand kämpfte ſie ſiegreich,
überall unglücklich wo ſie dem Wirrwarr des Reichsheeres ſich anſchließen
mußte.

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[32/0048] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. des deutſchen Reichs, mit allen Mitteln rückſichtsloſer Selbſtſucht, immer bereit die Front zu wechſeln, immer mit zwei Sehnen am Bogen. Kurbrandenburg empfand bis in das Mark ſeines Lebens, wie tief das ausländiſche Weſen ſich in Deutſchland eingefreſſen hatte. Alle die zuchtloſen Kräfte ſtändiſcher Libertät, welche der ſtrengen Ordnung der neuen Monarchie widerſtrebten, ſtützten ſich auf fremden Beiſtand. Hol- ländiſche Garniſonen lagen am Niederrhein und begünſtigten den Kampf der cleviſchen Stände wider den deutſchen Landesherrn, die Landtage von Magdeburg und der Kurmark rechneten auf Oeſterreich, der polenzende Adel in Königsberg rief den polniſchen Oberlehnsherrn zu Hilfe gegen den märkiſchen Despotismus. Im Kampfe mit der Fremdherrſchaft wurde die Staatseinheit dieſer zerſtreuten Gebiete und das Anſehen ihres Landesherrn begründet. Friedrich Wilhelm zerſtörte die Barriere der Niederländer im deutſchen Nordweſten, vertrieb ihre Truppen aus Cleve und Oſtfriesland; er befreite Altpreußen von der polniſchen Lehenshoheit und beugte den Königsberger Landtag unter ſeine Souveränität. Dann ruft er der tauben Nation ſein Mahnwort zu: „Gedenke, daß du ein Deutſcher biſt!“ und verſucht die Schweden vom Reichsboden zu ver- drängen. Zweimal gelang der Mißgunſt Frankreichs und Oeſterreichs, den Brandenburger um den Lohn ſeiner Siege, um die Herrſchaft in Pommern zu betrügen; den Ruhm des Tages von Fehrbellin konnten ſie ihm nicht rauben. Endlich wieder, nach langen Jahrzehnten der Schande, ein glän- zender Triumph deutſcher Waffen über die erſte Kriegsmacht der Zeit; die Welt erfuhr, daß Deutſchland wieder wage ſein Hausrecht zu wahren. Der Erbe der deutſchen Kirchenpolitik Guſtav Adolfs zerſprengte den verwegenen Bau des ſkandinaviſchen Oſtſeereiches, den das Schwert jenes Schweden- königs zuſammengefügt. Die beiden künſtlichen Großmächte des ſiebzehnten Jahrhunderts, Schweden und Holland, begannen zurückzutreten in ihre natürlichen Schranken, und der neue Staat, der ſich an ihrer Stelle erhob, zeigte weder die ausſchweifende Eroberungsluſt der ſchwediſchen Militärmacht noch den monopolſüchtigen Kaufmannsgeiſt der Niederländer. Er war deutſch, er begnügte ſich das Gebiet ſeiner Nation zu ſchirmen und vertrat gegen die Weltherrſchaftspläne der Bourbonen den Gedanken des europäiſchen Gleichgewichts, der Staatenfreiheit. Als die Republik der Niederlande dem Angriff Ludwigs XIV. zu erliegen drohte, da fiel Brandenburg dem Eroberer in den erhobenen Arm; Friedrich Wilhelm führte den einzigen ernſthaften Krieg, den das Reich zur Wiederer- oberung des Elſaſſes gewagt hat, und noch auf ſeinem Sterbebette entwarf er mit ſeinem oraniſchen Neffen den Plan, das evangeliſche und parla- mentariſche England zu retten vor der Willkür der Stuarts, der Vaſallen Ludwigs. Ueberall wo dieſe junge Macht allein ſtand kämpfte ſie ſiegreich, überall unglücklich wo ſie dem Wirrwarr des Reichsheeres ſich anſchließen mußte.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/48>, abgerufen am 29.03.2024.