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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
beantragten England und Frankreich auf der Londoner Conferenz ge-
meinsame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man stritt hinüber und
herüber, die Conferenz wußte sich aus ihrer Rathlosigkeit nur dadurch zu
retten, daß sie gar nicht mehr zusammentrat. Der europäische Areopag
löste sich auf und überließ es den Westmächten, ihre heilige Nichtein-
mischungs-Lehre zum zweiten male gröblich zu verletzen. Sie beschlossen
am 22. October, daß England die holländischen Schiffe in Beschlag nehmen,
Frankreich die Citadelle von Antwerpen für Belgien erobern solle.

Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken,
anders als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die so
lange umworbene Tochter Ludwig Philipp's geehelicht, und seit der Coburger
mit zur Familie gehörte, stand der alte Plan der Theilung Belgiens
nicht mehr im Einklang mit den kaufmännischen Geschäftsregeln des
Hauses Orleans. Im Mai war Casimir Perier gestorben, auch er
ein Opfer der Cholera. Im October übernahm der Herzog von Broglie
das Auswärtige Amt, der Führer der Doctrinäre, hochgebildet, steif,
tugendstolz, unausstehlich wie seine gesammte Partei, aber unbestreitbar
ein Mann des Friedens. Er versprach den großen Mächten sofort, daß
die französischen Truppen alsbald nach der Einnahme der Citadelle Bel-
gien wieder verlassen würden, und fragte sogar an, ob nicht Preußen
unterdessen das östliche Belgien besetzen wolle.*) König Friedrich Wilhelm
aber wollte an der Vergewaltigung seines Schwagers auch nicht mittelbar
theilnehmen; er verstärkte nur die Truppen am Rhein durch das west-
phälische Armeecorps und zog sie dicht an der Grenze, bei Aachen zusammen
um gegen einen Wortbruch Frankreichs sofort einschreiten zu können.
In Paris mußte Werther "den stärksten moralischen Widerstand leisten",
wie Ancillon salbungsvoll sagte**); auch Oesterreich und Rußland zeigten
dem französischen Hofe die üble Laune, die im Leben der Einzelnen wie
in der Politik immer den Schmollenden selber schädigt. Gleichwohl wagten
die Ostmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; schon im Früh-
jahr waren sie dahin übereingekommen, daß ein solcher Schritt entweder
ihr Ansehen bloßstellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder
heraufbeschwören müsse.***) Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl
und ließ den kleinen deutschen Höfen zuversichtlich ankündigen: "Obwohl
wir die Zustimmung der Nordmächte zu unseren Maßregeln nicht erlangt
haben, so sind wir nichtsdestoweniger sicher, keinem Widerstande ihrerseits
zu begegnen."+) Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den
abermaligen Einmischungsversuch der gleißnerischen Nicht-Einmischungs-

*) Witzleben an Maltzahn, 16. Oct. Weisungen an Maltzahn, 20. 30. Oct.
6. Nov. 1832.
**) Ancillon an Maltzahn 20. Oct. 1832.
***) Preußisches Memorandum für Graf Orlow, 13. Febr. 1832.
+) Broglie, Circular-Depesche über den Vertrag v. 22. Oct. 1832.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
beantragten England und Frankreich auf der Londoner Conferenz ge-
meinſame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man ſtritt hinüber und
herüber, die Conferenz wußte ſich aus ihrer Rathloſigkeit nur dadurch zu
retten, daß ſie gar nicht mehr zuſammentrat. Der europäiſche Areopag
löſte ſich auf und überließ es den Weſtmächten, ihre heilige Nichtein-
miſchungs-Lehre zum zweiten male gröblich zu verletzen. Sie beſchloſſen
am 22. October, daß England die holländiſchen Schiffe in Beſchlag nehmen,
Frankreich die Citadelle von Antwerpen für Belgien erobern ſolle.

Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken,
anders als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die ſo
lange umworbene Tochter Ludwig Philipp’s geehelicht, und ſeit der Coburger
mit zur Familie gehörte, ſtand der alte Plan der Theilung Belgiens
nicht mehr im Einklang mit den kaufmänniſchen Geſchäftsregeln des
Hauſes Orleans. Im Mai war Caſimir Perier geſtorben, auch er
ein Opfer der Cholera. Im October übernahm der Herzog von Broglie
das Auswärtige Amt, der Führer der Doctrinäre, hochgebildet, ſteif,
tugendſtolz, unausſtehlich wie ſeine geſammte Partei, aber unbeſtreitbar
ein Mann des Friedens. Er verſprach den großen Mächten ſofort, daß
die franzöſiſchen Truppen alsbald nach der Einnahme der Citadelle Bel-
gien wieder verlaſſen würden, und fragte ſogar an, ob nicht Preußen
unterdeſſen das öſtliche Belgien beſetzen wolle.*) König Friedrich Wilhelm
aber wollte an der Vergewaltigung ſeines Schwagers auch nicht mittelbar
theilnehmen; er verſtärkte nur die Truppen am Rhein durch das weſt-
phäliſche Armeecorps und zog ſie dicht an der Grenze, bei Aachen zuſammen
um gegen einen Wortbruch Frankreichs ſofort einſchreiten zu können.
In Paris mußte Werther „den ſtärkſten moraliſchen Widerſtand leiſten“,
wie Ancillon ſalbungsvoll ſagte**); auch Oeſterreich und Rußland zeigten
dem franzöſiſchen Hofe die üble Laune, die im Leben der Einzelnen wie
in der Politik immer den Schmollenden ſelber ſchädigt. Gleichwohl wagten
die Oſtmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; ſchon im Früh-
jahr waren ſie dahin übereingekommen, daß ein ſolcher Schritt entweder
ihr Anſehen bloßſtellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder
heraufbeſchwören müſſe.***) Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl
und ließ den kleinen deutſchen Höfen zuverſichtlich ankündigen: „Obwohl
wir die Zuſtimmung der Nordmächte zu unſeren Maßregeln nicht erlangt
haben, ſo ſind wir nichtsdeſtoweniger ſicher, keinem Widerſtande ihrerſeits
zu begegnen.“†) Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den
abermaligen Einmiſchungsverſuch der gleißneriſchen Nicht-Einmiſchungs-

*) Witzleben an Maltzahn, 16. Oct. Weiſungen an Maltzahn, 20. 30. Oct.
6. Nov. 1832.
**) Ancillon an Maltzahn 20. Oct. 1832.
***) Preußiſches Memorandum für Graf Orlow, 13. Febr. 1832.
†) Broglie, Circular-Depeſche über den Vertrag v. 22. Oct. 1832.
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[94/0108] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. beantragten England und Frankreich auf der Londoner Conferenz ge- meinſame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man ſtritt hinüber und herüber, die Conferenz wußte ſich aus ihrer Rathloſigkeit nur dadurch zu retten, daß ſie gar nicht mehr zuſammentrat. Der europäiſche Areopag löſte ſich auf und überließ es den Weſtmächten, ihre heilige Nichtein- miſchungs-Lehre zum zweiten male gröblich zu verletzen. Sie beſchloſſen am 22. October, daß England die holländiſchen Schiffe in Beſchlag nehmen, Frankreich die Citadelle von Antwerpen für Belgien erobern ſolle. Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken, anders als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die ſo lange umworbene Tochter Ludwig Philipp’s geehelicht, und ſeit der Coburger mit zur Familie gehörte, ſtand der alte Plan der Theilung Belgiens nicht mehr im Einklang mit den kaufmänniſchen Geſchäftsregeln des Hauſes Orleans. Im Mai war Caſimir Perier geſtorben, auch er ein Opfer der Cholera. Im October übernahm der Herzog von Broglie das Auswärtige Amt, der Führer der Doctrinäre, hochgebildet, ſteif, tugendſtolz, unausſtehlich wie ſeine geſammte Partei, aber unbeſtreitbar ein Mann des Friedens. Er verſprach den großen Mächten ſofort, daß die franzöſiſchen Truppen alsbald nach der Einnahme der Citadelle Bel- gien wieder verlaſſen würden, und fragte ſogar an, ob nicht Preußen unterdeſſen das öſtliche Belgien beſetzen wolle. *) König Friedrich Wilhelm aber wollte an der Vergewaltigung ſeines Schwagers auch nicht mittelbar theilnehmen; er verſtärkte nur die Truppen am Rhein durch das weſt- phäliſche Armeecorps und zog ſie dicht an der Grenze, bei Aachen zuſammen um gegen einen Wortbruch Frankreichs ſofort einſchreiten zu können. In Paris mußte Werther „den ſtärkſten moraliſchen Widerſtand leiſten“, wie Ancillon ſalbungsvoll ſagte **); auch Oeſterreich und Rußland zeigten dem franzöſiſchen Hofe die üble Laune, die im Leben der Einzelnen wie in der Politik immer den Schmollenden ſelber ſchädigt. Gleichwohl wagten die Oſtmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; ſchon im Früh- jahr waren ſie dahin übereingekommen, daß ein ſolcher Schritt entweder ihr Anſehen bloßſtellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder heraufbeſchwören müſſe. ***) Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl und ließ den kleinen deutſchen Höfen zuverſichtlich ankündigen: „Obwohl wir die Zuſtimmung der Nordmächte zu unſeren Maßregeln nicht erlangt haben, ſo ſind wir nichtsdeſtoweniger ſicher, keinem Widerſtande ihrerſeits zu begegnen.“ †) Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den abermaligen Einmiſchungsverſuch der gleißneriſchen Nicht-Einmiſchungs- *) Witzleben an Maltzahn, 16. Oct. Weiſungen an Maltzahn, 20. 30. Oct. 6. Nov. 1832. **) Ancillon an Maltzahn 20. Oct. 1832. ***) Preußiſches Memorandum für Graf Orlow, 13. Febr. 1832. †) Broglie, Circular-Depeſche über den Vertrag v. 22. Oct. 1832.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/108>, abgerufen am 29.03.2024.