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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Der Zug nach Antwerpen.
Politiker auf's Aeußerste empört war. Trotz aller Warnungen, die ihm
selbst aus Petersburg zukamen, hatte er doch nicht für möglich gehalten,
daß seine alten Freunde ihn hilflos den Mißhandlungen der Westmächte
preisgeben würden -- und warum? weil er einem Vertrage widersprach,
der gleich dem Utrechter Frieden ohne, über und gegen Holland abge-
schlossen war! Lord Palmerston aber weidete sich schadenfroh an der Ver-
legenheit der Ostmächte. Lustiger denn je pries er dem Parlamente die
Expediency des Zuges nach Antwerpen und rühmte zugleich die Ehr-
lichkeit der englischen Politik -- was doch selbst vielen seiner britischen
Hörer wie ein frecher Witz klang.

Ungestört konnte also das wunderbare Schauspiel eines Krieges ohne
Friedensbruch über die Bretter gehen. Am 22. November begann Mar-
schall Gerard mit 60000 Franzosen die von 5000 Holländern vertheidigte
Antwerpener Citadelle zu belagern. Jede Mitwirkung der Belgier wies
er zurück, da seine Regimenter durchaus nur als Executionstruppen
Europas auftreten sollten. Nach vier Wochen tapferen Widerstandes
ergab sich die Festung, und sofort kehrte das französische Heer in die
Heimath zurück. Am 22. März 1833 ward dann eine neue Waffenruhe
vereinbart: die Holländer blieben noch in den Scheldefestungen Lillo und
Liefkenshoeck, die Belgier hielten einen Theil des holländischen Luxemburg
und Limburg besetzt. In diesem seltsamen Zustande verblieben die Nieder-
lande sechs Jahre lang bis der Oranier endlich nachgab. Sechs Jahre
hindurch stand das holländische Heer an der Südgrenze versammelt,
willig brachte das treue Volk dem Starrsinn seines Königs schwere Opfer,
derweil die klugen Belgier sich die Verzinsung ihres Antheils an der
alten Staatsschuld ersparten.

So endete dies Nachspiel der Juli-Revolution mit einem Triumphe
des Bürgerkönigthums, der dem französischen Staate allerdings weder
wahren Kriegsruhm noch eine dauernde Machterweiterung brachte, aber
so blendend in die Augen stach, daß selbst der nüchterne Guizot mit der
"glänzenden französischen Lösung der belgischen Frage" prahlen konnte.
Die Ostmächte empfanden die erlittene Niederlage sehr lebhaft. Metternich
wußte nur den einen Trost, daß der Tag der Gerechtigkeit noch nicht
gekommen sei. Bald nach dem Falle von Antwerpen meinte er weh-
müthig: "die praktische, die einzige auf die Lage des Tages anwendbare
Wahrheit ist die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Ereignisse abzu-
warten." --

In Oesterreichs unmittelbarem Machtgebiete ließ er diese Wahrheit
freilich nicht gelten; seine italienische Politik blieb fest, herrisch, zugreifend.
Im Kirchenstaate kam Alles wie er es vorhergesehen: die Unruhen brachen
sofort wieder aus, als die Oesterreicher auf Frankreichs Wunsch abgezogen
waren. Der Papst konnte und wollte die verheißenen Reformen nicht
ernstlich durchführen, obwohl ihn Metternich mehrmals mahnte und schon

Der Zug nach Antwerpen.
Politiker auf’s Aeußerſte empört war. Trotz aller Warnungen, die ihm
ſelbſt aus Petersburg zukamen, hatte er doch nicht für möglich gehalten,
daß ſeine alten Freunde ihn hilflos den Mißhandlungen der Weſtmächte
preisgeben würden — und warum? weil er einem Vertrage widerſprach,
der gleich dem Utrechter Frieden ohne, über und gegen Holland abge-
ſchloſſen war! Lord Palmerſton aber weidete ſich ſchadenfroh an der Ver-
legenheit der Oſtmächte. Luſtiger denn je pries er dem Parlamente die
Expediency des Zuges nach Antwerpen und rühmte zugleich die Ehr-
lichkeit der engliſchen Politik — was doch ſelbſt vielen ſeiner britiſchen
Hörer wie ein frecher Witz klang.

Ungeſtört konnte alſo das wunderbare Schauſpiel eines Krieges ohne
Friedensbruch über die Bretter gehen. Am 22. November begann Mar-
ſchall Gerard mit 60000 Franzoſen die von 5000 Holländern vertheidigte
Antwerpener Citadelle zu belagern. Jede Mitwirkung der Belgier wies
er zurück, da ſeine Regimenter durchaus nur als Executionstruppen
Europas auftreten ſollten. Nach vier Wochen tapferen Widerſtandes
ergab ſich die Feſtung, und ſofort kehrte das franzöſiſche Heer in die
Heimath zurück. Am 22. März 1833 ward dann eine neue Waffenruhe
vereinbart: die Holländer blieben noch in den Scheldefeſtungen Lillo und
Liefkenshoeck, die Belgier hielten einen Theil des holländiſchen Luxemburg
und Limburg beſetzt. In dieſem ſeltſamen Zuſtande verblieben die Nieder-
lande ſechs Jahre lang bis der Oranier endlich nachgab. Sechs Jahre
hindurch ſtand das holländiſche Heer an der Südgrenze verſammelt,
willig brachte das treue Volk dem Starrſinn ſeines Königs ſchwere Opfer,
derweil die klugen Belgier ſich die Verzinſung ihres Antheils an der
alten Staatsſchuld erſparten.

So endete dies Nachſpiel der Juli-Revolution mit einem Triumphe
des Bürgerkönigthums, der dem franzöſiſchen Staate allerdings weder
wahren Kriegsruhm noch eine dauernde Machterweiterung brachte, aber
ſo blendend in die Augen ſtach, daß ſelbſt der nüchterne Guizot mit der
„glänzenden franzöſiſchen Löſung der belgiſchen Frage“ prahlen konnte.
Die Oſtmächte empfanden die erlittene Niederlage ſehr lebhaft. Metternich
wußte nur den einen Troſt, daß der Tag der Gerechtigkeit noch nicht
gekommen ſei. Bald nach dem Falle von Antwerpen meinte er weh-
müthig: „die praktiſche, die einzige auf die Lage des Tages anwendbare
Wahrheit iſt die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Ereigniſſe abzu-
warten.“ —

In Oeſterreichs unmittelbarem Machtgebiete ließ er dieſe Wahrheit
freilich nicht gelten; ſeine italieniſche Politik blieb feſt, herriſch, zugreifend.
Im Kirchenſtaate kam Alles wie er es vorhergeſehen: die Unruhen brachen
ſofort wieder aus, als die Oeſterreicher auf Frankreichs Wunſch abgezogen
waren. Der Papſt konnte und wollte die verheißenen Reformen nicht
ernſtlich durchführen, obwohl ihn Metternich mehrmals mahnte und ſchon

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[95/0109] Der Zug nach Antwerpen. Politiker auf’s Aeußerſte empört war. Trotz aller Warnungen, die ihm ſelbſt aus Petersburg zukamen, hatte er doch nicht für möglich gehalten, daß ſeine alten Freunde ihn hilflos den Mißhandlungen der Weſtmächte preisgeben würden — und warum? weil er einem Vertrage widerſprach, der gleich dem Utrechter Frieden ohne, über und gegen Holland abge- ſchloſſen war! Lord Palmerſton aber weidete ſich ſchadenfroh an der Ver- legenheit der Oſtmächte. Luſtiger denn je pries er dem Parlamente die Expediency des Zuges nach Antwerpen und rühmte zugleich die Ehr- lichkeit der engliſchen Politik — was doch ſelbſt vielen ſeiner britiſchen Hörer wie ein frecher Witz klang. Ungeſtört konnte alſo das wunderbare Schauſpiel eines Krieges ohne Friedensbruch über die Bretter gehen. Am 22. November begann Mar- ſchall Gerard mit 60000 Franzoſen die von 5000 Holländern vertheidigte Antwerpener Citadelle zu belagern. Jede Mitwirkung der Belgier wies er zurück, da ſeine Regimenter durchaus nur als Executionstruppen Europas auftreten ſollten. Nach vier Wochen tapferen Widerſtandes ergab ſich die Feſtung, und ſofort kehrte das franzöſiſche Heer in die Heimath zurück. Am 22. März 1833 ward dann eine neue Waffenruhe vereinbart: die Holländer blieben noch in den Scheldefeſtungen Lillo und Liefkenshoeck, die Belgier hielten einen Theil des holländiſchen Luxemburg und Limburg beſetzt. In dieſem ſeltſamen Zuſtande verblieben die Nieder- lande ſechs Jahre lang bis der Oranier endlich nachgab. Sechs Jahre hindurch ſtand das holländiſche Heer an der Südgrenze verſammelt, willig brachte das treue Volk dem Starrſinn ſeines Königs ſchwere Opfer, derweil die klugen Belgier ſich die Verzinſung ihres Antheils an der alten Staatsſchuld erſparten. So endete dies Nachſpiel der Juli-Revolution mit einem Triumphe des Bürgerkönigthums, der dem franzöſiſchen Staate allerdings weder wahren Kriegsruhm noch eine dauernde Machterweiterung brachte, aber ſo blendend in die Augen ſtach, daß ſelbſt der nüchterne Guizot mit der „glänzenden franzöſiſchen Löſung der belgiſchen Frage“ prahlen konnte. Die Oſtmächte empfanden die erlittene Niederlage ſehr lebhaft. Metternich wußte nur den einen Troſt, daß der Tag der Gerechtigkeit noch nicht gekommen ſei. Bald nach dem Falle von Antwerpen meinte er weh- müthig: „die praktiſche, die einzige auf die Lage des Tages anwendbare Wahrheit iſt die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Ereigniſſe abzu- warten.“ — In Oeſterreichs unmittelbarem Machtgebiete ließ er dieſe Wahrheit freilich nicht gelten; ſeine italieniſche Politik blieb feſt, herriſch, zugreifend. Im Kirchenſtaate kam Alles wie er es vorhergeſehen: die Unruhen brachen ſofort wieder aus, als die Oeſterreicher auf Frankreichs Wunſch abgezogen waren. Der Papſt konnte und wollte die verheißenen Reformen nicht ernſtlich durchführen, obwohl ihn Metternich mehrmals mahnte und ſchon

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/109>, abgerufen am 29.03.2024.