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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Der Göttinger Aufstand.
zu wagen. Daß die Hofräthe des akademischen Körpers sich mit wenigen
Ausnahmen grundsätzlich der Politik fern hielten, war weltbekannt; auch
unter den Studenten bestand nur eine kleine radicale Partei, denn die
Georgia Augusta galt noch für die vornehmste der deutschen Universitäten,
die Prinzen und die Grafen saßen in den Hörsälen noch immer wie zu
Pütter's Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerschaft aber hatte sich,
seit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener
aus Geldgier, Bedientensinn und Durst gemischte Charakter, welcher die
Bewohner kleiner Badeorte und Universitätsstädte gemeinhin auszeichnet,
ungewöhnlich stark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handstreich leicht
gelingen; denn das Jägerbataillon in der Kaserne zählte nur achtzig Mann
-- Dank dem lässigen Beurlaubungssystem, das in allen den kleinen
Bundesheeren eingerissen war -- und der Commandant sollte nach Lan-
desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte seine Mannschaft, die bei
rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Civil-
behörden einschreiten lassen.

Am 8. Januar stürmten die Advokaten Seidensticker und Eggeling
mit einer kleinen Schaar Verschworener in das alte Rathhaus. Der
verhaßte Polizei-Commissär machte sich aus dem Staube, auch die anderen
Behörden stellten gehorsam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern,
Doctoren und Studenten zusammengesetzter Gemeinderath übernahm die
Herrschaft. Während ein Studentenschneider auf der steinernen Brüstung
der Rathhaustreppe drohend seinen Hirschfänger wetzte, schritt der Leiter
der Bewegung, der Privatdocent v. Rauschenplatt, im Schlapphut und
hohen Kanonenstiefeln auf dem Marktplatze einher -- ein beherzter,
stämmiger kleiner Mann mit schief geschlitzten schlauen Augen, dichtem
Haarwuchs und struppigem blondem Vollbart; vier Pistolen, ein Schlepp-
säbel und ein Dolch prangten an seinem Gürtel. Auf den Ruf: "es
giebt Revolution" eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück-
selig über den ungeheueren Ulk. Eine akademische und eine bürgerliche
Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde,
viele auch die lila-grün-rothe Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben-
hagenschen Nation. Alles beugte sich den neuen Gewalten. Die Gar-
nison zog unbelästigt ab, nachdem Rauschenplatt vergeblich versucht hatte,
den Commandanten zur gefälligen Ablieferung seiner überzähligen Flinten
zu bereden. Im akademischen Senat verlangte Dahlmann eine scharfe
Abmahnung an die Studenten, aber nur der streng conservative Gauß
fand den Muth ihm beizustimmen.

Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des "Ka-
ters" -- so hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Thore
waren verrammelt, die schönen Baumgänge des Walles wurden scharf
bewacht, weil man die Beamten und Professoren als Geisel zurückhalten
wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen

Der Göttinger Aufſtand.
zu wagen. Daß die Hofräthe des akademiſchen Körpers ſich mit wenigen
Ausnahmen grundſätzlich der Politik fern hielten, war weltbekannt; auch
unter den Studenten beſtand nur eine kleine radicale Partei, denn die
Georgia Auguſta galt noch für die vornehmſte der deutſchen Univerſitäten,
die Prinzen und die Grafen ſaßen in den Hörſälen noch immer wie zu
Pütter’s Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerſchaft aber hatte ſich,
ſeit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener
aus Geldgier, Bedientenſinn und Durſt gemiſchte Charakter, welcher die
Bewohner kleiner Badeorte und Univerſitätsſtädte gemeinhin auszeichnet,
ungewöhnlich ſtark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handſtreich leicht
gelingen; denn das Jägerbataillon in der Kaſerne zählte nur achtzig Mann
— Dank dem läſſigen Beurlaubungsſyſtem, das in allen den kleinen
Bundesheeren eingeriſſen war — und der Commandant ſollte nach Lan-
desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte ſeine Mannſchaft, die bei
rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Civil-
behörden einſchreiten laſſen.

Am 8. Januar ſtürmten die Advokaten Seidenſticker und Eggeling
mit einer kleinen Schaar Verſchworener in das alte Rathhaus. Der
verhaßte Polizei-Commiſſär machte ſich aus dem Staube, auch die anderen
Behörden ſtellten gehorſam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern,
Doctoren und Studenten zuſammengeſetzter Gemeinderath übernahm die
Herrſchaft. Während ein Studentenſchneider auf der ſteinernen Brüſtung
der Rathhaustreppe drohend ſeinen Hirſchfänger wetzte, ſchritt der Leiter
der Bewegung, der Privatdocent v. Rauſchenplatt, im Schlapphut und
hohen Kanonenſtiefeln auf dem Marktplatze einher — ein beherzter,
ſtämmiger kleiner Mann mit ſchief geſchlitzten ſchlauen Augen, dichtem
Haarwuchs und ſtruppigem blondem Vollbart; vier Piſtolen, ein Schlepp-
ſäbel und ein Dolch prangten an ſeinem Gürtel. Auf den Ruf: „es
giebt Revolution“ eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück-
ſelig über den ungeheueren Ulk. Eine akademiſche und eine bürgerliche
Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde,
viele auch die lila-grün-rothe Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben-
hagenſchen Nation. Alles beugte ſich den neuen Gewalten. Die Gar-
niſon zog unbeläſtigt ab, nachdem Rauſchenplatt vergeblich verſucht hatte,
den Commandanten zur gefälligen Ablieferung ſeiner überzähligen Flinten
zu bereden. Im akademiſchen Senat verlangte Dahlmann eine ſcharfe
Abmahnung an die Studenten, aber nur der ſtreng conſervative Gauß
fand den Muth ihm beizuſtimmen.

Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des „Ka-
ters“ — ſo hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Thore
waren verrammelt, die ſchönen Baumgänge des Walles wurden ſcharf
bewacht, weil man die Beamten und Profeſſoren als Geiſel zurückhalten
wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen

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[155/0169] Der Göttinger Aufſtand. zu wagen. Daß die Hofräthe des akademiſchen Körpers ſich mit wenigen Ausnahmen grundſätzlich der Politik fern hielten, war weltbekannt; auch unter den Studenten beſtand nur eine kleine radicale Partei, denn die Georgia Auguſta galt noch für die vornehmſte der deutſchen Univerſitäten, die Prinzen und die Grafen ſaßen in den Hörſälen noch immer wie zu Pütter’s Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerſchaft aber hatte ſich, ſeit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener aus Geldgier, Bedientenſinn und Durſt gemiſchte Charakter, welcher die Bewohner kleiner Badeorte und Univerſitätsſtädte gemeinhin auszeichnet, ungewöhnlich ſtark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handſtreich leicht gelingen; denn das Jägerbataillon in der Kaſerne zählte nur achtzig Mann — Dank dem läſſigen Beurlaubungsſyſtem, das in allen den kleinen Bundesheeren eingeriſſen war — und der Commandant ſollte nach Lan- desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte ſeine Mannſchaft, die bei rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Civil- behörden einſchreiten laſſen. Am 8. Januar ſtürmten die Advokaten Seidenſticker und Eggeling mit einer kleinen Schaar Verſchworener in das alte Rathhaus. Der verhaßte Polizei-Commiſſär machte ſich aus dem Staube, auch die anderen Behörden ſtellten gehorſam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern, Doctoren und Studenten zuſammengeſetzter Gemeinderath übernahm die Herrſchaft. Während ein Studentenſchneider auf der ſteinernen Brüſtung der Rathhaustreppe drohend ſeinen Hirſchfänger wetzte, ſchritt der Leiter der Bewegung, der Privatdocent v. Rauſchenplatt, im Schlapphut und hohen Kanonenſtiefeln auf dem Marktplatze einher — ein beherzter, ſtämmiger kleiner Mann mit ſchief geſchlitzten ſchlauen Augen, dichtem Haarwuchs und ſtruppigem blondem Vollbart; vier Piſtolen, ein Schlepp- ſäbel und ein Dolch prangten an ſeinem Gürtel. Auf den Ruf: „es giebt Revolution“ eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück- ſelig über den ungeheueren Ulk. Eine akademiſche und eine bürgerliche Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde, viele auch die lila-grün-rothe Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben- hagenſchen Nation. Alles beugte ſich den neuen Gewalten. Die Gar- niſon zog unbeläſtigt ab, nachdem Rauſchenplatt vergeblich verſucht hatte, den Commandanten zur gefälligen Ablieferung ſeiner überzähligen Flinten zu bereden. Im akademiſchen Senat verlangte Dahlmann eine ſcharfe Abmahnung an die Studenten, aber nur der ſtreng conſervative Gauß fand den Muth ihm beizuſtimmen. Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des „Ka- ters“ — ſo hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Thore waren verrammelt, die ſchönen Baumgänge des Walles wurden ſcharf bewacht, weil man die Beamten und Profeſſoren als Geiſel zurückhalten wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/169>, abgerufen am 25.04.2024.