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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Der Kampf um die Parlamentsherrschaft.
lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank-
reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrschaft eines genialen
Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die
Herstellung des rechtmäßigen Königshauses gefolgt; hier wie dort ward
der alten, dem Erlöschen nahen Dynastie unerwartet noch ein Erbe ge-
boren, hier wie dort stand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem
Throne. Warum sollte nicht auch Frankreich sich die Freuden einer
zweiten Revolution gönnen? sie hatte ja, wie Thiers gemüthlich bemerkte,
"nichts zu zerstören außer der Dynastie!"

Die Erbitterten wollten nicht sehen, daß allein in dem unbestreit-
baren Erbrechte des königlichen Hauses der Ehrgeiz der Parteien seine
letzte Schranke, die gesetzliche Freiheit ihre letzte Bürgschaft finden konnte.
Für das leichtsinnige junge Geschlecht, das in den Schulen der neuen
Universität herangewachsen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine
Schrecken mehr. Wie verführerisch erschienen die Gräuel jener Tage
in Thiers' gefeiertem Geschichtswerke; selbst in Mignet's ruhiger ge-
haltenem Buche über die Geschichte der Revolution, einem Meisterwerke
gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, schwieg die Stimme des Ge-
wissens gänzlich; Beide redeten, als ob eine räthselhafte Schicksalsmacht die
ewigen sittlichen Gesetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch
für die Franzosen außer Kraft gesetzt hätte. So verloren sich die liberalen
Parteien in die Traumwelt einer Doctrin, die für unwiderleglich galt, ob-
gleich sie von Widersprüchen strotzte, die sich monarchisch nannte, obgleich
sie auf dem republikanischen Gedanken der Volkssouveränität ruhte. Man
wähnte die Charte zu vertheidigen und bestritt der Krone ein Recht, das
ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man sprach von der Unverantwort-
lichkeit des Monarchen, von der Regierung seiner allein verantwortlichen
Räthe und behielt dem Volke doch die Befugniß vor, den König zu ent-
thronen falls er dem Willen der Kammern sich nicht beugte.

Dieser Doctrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenso leicht-
fertig und ebenso dünkelhaft, die Doctrin der rechtmäßigen Staatsstreiche
gegenüber. Auch König Karl steifte sich auf sein natürliches Recht: er wolle,
so vermaß er sich, lieber Holz schlagen als seine Krone eben so tief wie
die englische erniedrigen lassen. Für den ärgsten Fall hielt sein Polignac
eine Rechtslehre bereit, die ersichtlich der jakobitischen Königskunst des
Hauses Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geschenk der
königlichen Gnade sei, so dürfe der Monarch jederzeit seine ursprüngliche
Vollgewalt wieder an sich nehmen und einzelne Sätze der Verfassung
beseitigen, um nachher wieder in den Weg des Gesetzes einzulenken; die
Charte bestimmte ja selbst im Art. 14, daß der König die zur Sicher-
heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlassen solle; und schon
einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgesetz, zur Befriedigung des Lan-
des, durch eine königliche Ordonnanz einseitig abgeändert worden. Sicher

Der Kampf um die Parlamentsherrſchaft.
lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank-
reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrſchaft eines genialen
Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die
Herſtellung des rechtmäßigen Königshauſes gefolgt; hier wie dort ward
der alten, dem Erlöſchen nahen Dynaſtie unerwartet noch ein Erbe ge-
boren, hier wie dort ſtand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem
Throne. Warum ſollte nicht auch Frankreich ſich die Freuden einer
zweiten Revolution gönnen? ſie hatte ja, wie Thiers gemüthlich bemerkte,
„nichts zu zerſtören außer der Dynaſtie!“

Die Erbitterten wollten nicht ſehen, daß allein in dem unbeſtreit-
baren Erbrechte des königlichen Hauſes der Ehrgeiz der Parteien ſeine
letzte Schranke, die geſetzliche Freiheit ihre letzte Bürgſchaft finden konnte.
Für das leichtſinnige junge Geſchlecht, das in den Schulen der neuen
Univerſität herangewachſen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine
Schrecken mehr. Wie verführeriſch erſchienen die Gräuel jener Tage
in Thiers’ gefeiertem Geſchichtswerke; ſelbſt in Mignet’s ruhiger ge-
haltenem Buche über die Geſchichte der Revolution, einem Meiſterwerke
gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, ſchwieg die Stimme des Ge-
wiſſens gänzlich; Beide redeten, als ob eine räthſelhafte Schickſalsmacht die
ewigen ſittlichen Geſetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch
für die Franzoſen außer Kraft geſetzt hätte. So verloren ſich die liberalen
Parteien in die Traumwelt einer Doctrin, die für unwiderleglich galt, ob-
gleich ſie von Widerſprüchen ſtrotzte, die ſich monarchiſch nannte, obgleich
ſie auf dem republikaniſchen Gedanken der Volksſouveränität ruhte. Man
wähnte die Charte zu vertheidigen und beſtritt der Krone ein Recht, das
ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man ſprach von der Unverantwort-
lichkeit des Monarchen, von der Regierung ſeiner allein verantwortlichen
Räthe und behielt dem Volke doch die Befugniß vor, den König zu ent-
thronen falls er dem Willen der Kammern ſich nicht beugte.

Dieſer Doctrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenſo leicht-
fertig und ebenſo dünkelhaft, die Doctrin der rechtmäßigen Staatsſtreiche
gegenüber. Auch König Karl ſteifte ſich auf ſein natürliches Recht: er wolle,
ſo vermaß er ſich, lieber Holz ſchlagen als ſeine Krone eben ſo tief wie
die engliſche erniedrigen laſſen. Für den ärgſten Fall hielt ſein Polignac
eine Rechtslehre bereit, die erſichtlich der jakobitiſchen Königskunſt des
Hauſes Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geſchenk der
königlichen Gnade ſei, ſo dürfe der Monarch jederzeit ſeine urſprüngliche
Vollgewalt wieder an ſich nehmen und einzelne Sätze der Verfaſſung
beſeitigen, um nachher wieder in den Weg des Geſetzes einzulenken; die
Charte beſtimmte ja ſelbſt im Art. 14, daß der König die zur Sicher-
heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlaſſen ſolle; und ſchon
einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgeſetz, zur Befriedigung des Lan-
des, durch eine königliche Ordonnanz einſeitig abgeändert worden. Sicher

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[11/0025] Der Kampf um die Parlamentsherrſchaft. lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank- reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrſchaft eines genialen Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die Herſtellung des rechtmäßigen Königshauſes gefolgt; hier wie dort ward der alten, dem Erlöſchen nahen Dynaſtie unerwartet noch ein Erbe ge- boren, hier wie dort ſtand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem Throne. Warum ſollte nicht auch Frankreich ſich die Freuden einer zweiten Revolution gönnen? ſie hatte ja, wie Thiers gemüthlich bemerkte, „nichts zu zerſtören außer der Dynaſtie!“ Die Erbitterten wollten nicht ſehen, daß allein in dem unbeſtreit- baren Erbrechte des königlichen Hauſes der Ehrgeiz der Parteien ſeine letzte Schranke, die geſetzliche Freiheit ihre letzte Bürgſchaft finden konnte. Für das leichtſinnige junge Geſchlecht, das in den Schulen der neuen Univerſität herangewachſen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine Schrecken mehr. Wie verführeriſch erſchienen die Gräuel jener Tage in Thiers’ gefeiertem Geſchichtswerke; ſelbſt in Mignet’s ruhiger ge- haltenem Buche über die Geſchichte der Revolution, einem Meiſterwerke gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, ſchwieg die Stimme des Ge- wiſſens gänzlich; Beide redeten, als ob eine räthſelhafte Schickſalsmacht die ewigen ſittlichen Geſetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch für die Franzoſen außer Kraft geſetzt hätte. So verloren ſich die liberalen Parteien in die Traumwelt einer Doctrin, die für unwiderleglich galt, ob- gleich ſie von Widerſprüchen ſtrotzte, die ſich monarchiſch nannte, obgleich ſie auf dem republikaniſchen Gedanken der Volksſouveränität ruhte. Man wähnte die Charte zu vertheidigen und beſtritt der Krone ein Recht, das ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man ſprach von der Unverantwort- lichkeit des Monarchen, von der Regierung ſeiner allein verantwortlichen Räthe und behielt dem Volke doch die Befugniß vor, den König zu ent- thronen falls er dem Willen der Kammern ſich nicht beugte. Dieſer Doctrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenſo leicht- fertig und ebenſo dünkelhaft, die Doctrin der rechtmäßigen Staatsſtreiche gegenüber. Auch König Karl ſteifte ſich auf ſein natürliches Recht: er wolle, ſo vermaß er ſich, lieber Holz ſchlagen als ſeine Krone eben ſo tief wie die engliſche erniedrigen laſſen. Für den ärgſten Fall hielt ſein Polignac eine Rechtslehre bereit, die erſichtlich der jakobitiſchen Königskunſt des Hauſes Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geſchenk der königlichen Gnade ſei, ſo dürfe der Monarch jederzeit ſeine urſprüngliche Vollgewalt wieder an ſich nehmen und einzelne Sätze der Verfaſſung beſeitigen, um nachher wieder in den Weg des Geſetzes einzulenken; die Charte beſtimmte ja ſelbſt im Art. 14, daß der König die zur Sicher- heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlaſſen ſolle; und ſchon einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgeſetz, zur Befriedigung des Lan- des, durch eine königliche Ordonnanz einſeitig abgeändert worden. Sicher

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/25>, abgerufen am 29.03.2024.