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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
wie ein Nachtwandler schritt Polignac seines Weges. Bernstorff und
selbst Metternich bezweifelten längst, ob er die Ueberlegenheit des Charak-
ters und des Talentes besitze, um den ungleichen Kampf zu bestehen; er
aber meinte wirklich, nur eine Hand voll Schreier gegen sich zu haben und
betheuerte den fremden Gesandten: einer Mehrheit in der Kammer bedarf
ich nicht, der Wille des Königs vermag in Frankreich Alles.*) So stand
Princip gegen Princip. Der versöhnliche Sinn, der die schwerfälligen
constitutionellen Formen allein zu beleben vermag, fehlte hüben wie drüben;
beide Theile verfuhren nach französischem Herkommen ohne Offenheit und
verbargen ihre letzten Absichten.

Monatelang konnten die Minister unter Polignac's unfähiger Leitung
zu keinem Entschlusse gelangen, sie besorgten gemächlich ihre Verwaltungs-
geschäfte und wagten schlechterdings keinen tadelnswerthen Schritt. Trotz-
dem verschworen sich die Blätter der Opposition, diesem Cabinet das Re-
gieren unmöglich zu machen, und schwelgten in wüthenden Beschimpfungen,
die von der amtlichen Zeitung ebenso heftig erwidert wurden. Der Streit
ward täglich giftiger, eben weil die Regierung noch nichts verschuldet hatte.
Bereits spürte man überall den Einfluß der Gesellschaft Aide-toi, die
aus Republikanern und Doctrinären gemischt, seit drei Jahren schon den
Sturz der Bourbonen vorbereitete. In den Provinzen bildeten sich Ver-
eine, um zur Steuerverweigerung aufzufordern für den möglichen Fall,
daß der König die Charte verletzen sollte. Seit Neujahr 1830 gab dann
Thiers mit einigen anderen jungen Talenten die Zeitung Le National
heraus und entfaltete hier ungescheut das Banner der Tricolore. Eine
Zeit lang hoffte Fürst Polignac, durch Erfolge der auswärtigen Politik
die Aufmerksamkeit von den inneren Händeln abzulenken. Kaum ins Amt
eingetreten legte er dem Könige einen großen Entwurf für die Neugestal-
tung Europas vor: darnach sollte die Türkei getheilt, der König der Nie-
derlande in Konstantinopel, der König von Sachsen in Aachen unterge-
bracht, Preußen durch Sachsen und Holland vergrößert werden, Frankreich
endlich ohne Schwertstreich in den Besitz von Belgien gelangen. Aber der
Friede von Adrianopel zerstörte die phantastischen Pläne noch bevor sie
den großen Mächten mitgetheilt waren. Nachher erhob sich ein Streit
mit dem Dey von Algier; ein freundliches Geschick beschied den Bourbonen,
noch wenige Tage vor ihrem Sturze durch einen kühnen und geschickten
Angriff dem neuen Frankreich seine wichtigste Kolonie zu erobern. Doch
selbst dieser schöne Erfolg brachte die Nation nicht ab von dem einen Ge-
danken, der sich ihres Geistes bemächtigt hatte.

Als der König am 2. März die Tagung der Kammern eröffnete, er-
klärte er in der Thronrede feierlich: er werde die geheiligten Rechte seiner

*) Bernstorff an Maltzahn, 1. Februar 1830. Berichte von Maltzahn, 26. Januar
1830, von Werther 12. August 1829 ff.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
wie ein Nachtwandler ſchritt Polignac ſeines Weges. Bernſtorff und
ſelbſt Metternich bezweifelten längſt, ob er die Ueberlegenheit des Charak-
ters und des Talentes beſitze, um den ungleichen Kampf zu beſtehen; er
aber meinte wirklich, nur eine Hand voll Schreier gegen ſich zu haben und
betheuerte den fremden Geſandten: einer Mehrheit in der Kammer bedarf
ich nicht, der Wille des Königs vermag in Frankreich Alles.*) So ſtand
Princip gegen Princip. Der verſöhnliche Sinn, der die ſchwerfälligen
conſtitutionellen Formen allein zu beleben vermag, fehlte hüben wie drüben;
beide Theile verfuhren nach franzöſiſchem Herkommen ohne Offenheit und
verbargen ihre letzten Abſichten.

Monatelang konnten die Miniſter unter Polignac’s unfähiger Leitung
zu keinem Entſchluſſe gelangen, ſie beſorgten gemächlich ihre Verwaltungs-
geſchäfte und wagten ſchlechterdings keinen tadelnswerthen Schritt. Trotz-
dem verſchworen ſich die Blätter der Oppoſition, dieſem Cabinet das Re-
gieren unmöglich zu machen, und ſchwelgten in wüthenden Beſchimpfungen,
die von der amtlichen Zeitung ebenſo heftig erwidert wurden. Der Streit
ward täglich giftiger, eben weil die Regierung noch nichts verſchuldet hatte.
Bereits ſpürte man überall den Einfluß der Geſellſchaft Aide-toi, die
aus Republikanern und Doctrinären gemiſcht, ſeit drei Jahren ſchon den
Sturz der Bourbonen vorbereitete. In den Provinzen bildeten ſich Ver-
eine, um zur Steuerverweigerung aufzufordern für den möglichen Fall,
daß der König die Charte verletzen ſollte. Seit Neujahr 1830 gab dann
Thiers mit einigen anderen jungen Talenten die Zeitung Le National
heraus und entfaltete hier ungeſcheut das Banner der Tricolore. Eine
Zeit lang hoffte Fürſt Polignac, durch Erfolge der auswärtigen Politik
die Aufmerkſamkeit von den inneren Händeln abzulenken. Kaum ins Amt
eingetreten legte er dem Könige einen großen Entwurf für die Neugeſtal-
tung Europas vor: darnach ſollte die Türkei getheilt, der König der Nie-
derlande in Konſtantinopel, der König von Sachſen in Aachen unterge-
bracht, Preußen durch Sachſen und Holland vergrößert werden, Frankreich
endlich ohne Schwertſtreich in den Beſitz von Belgien gelangen. Aber der
Friede von Adrianopel zerſtörte die phantaſtiſchen Pläne noch bevor ſie
den großen Mächten mitgetheilt waren. Nachher erhob ſich ein Streit
mit dem Dey von Algier; ein freundliches Geſchick beſchied den Bourbonen,
noch wenige Tage vor ihrem Sturze durch einen kühnen und geſchickten
Angriff dem neuen Frankreich ſeine wichtigſte Kolonie zu erobern. Doch
ſelbſt dieſer ſchöne Erfolg brachte die Nation nicht ab von dem einen Ge-
danken, der ſich ihres Geiſtes bemächtigt hatte.

Als der König am 2. März die Tagung der Kammern eröffnete, er-
klärte er in der Thronrede feierlich: er werde die geheiligten Rechte ſeiner

*) Bernſtorff an Maltzahn, 1. Februar 1830. Berichte von Maltzahn, 26. Januar
1830, von Werther 12. Auguſt 1829 ff.
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[12/0026] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. wie ein Nachtwandler ſchritt Polignac ſeines Weges. Bernſtorff und ſelbſt Metternich bezweifelten längſt, ob er die Ueberlegenheit des Charak- ters und des Talentes beſitze, um den ungleichen Kampf zu beſtehen; er aber meinte wirklich, nur eine Hand voll Schreier gegen ſich zu haben und betheuerte den fremden Geſandten: einer Mehrheit in der Kammer bedarf ich nicht, der Wille des Königs vermag in Frankreich Alles. *) So ſtand Princip gegen Princip. Der verſöhnliche Sinn, der die ſchwerfälligen conſtitutionellen Formen allein zu beleben vermag, fehlte hüben wie drüben; beide Theile verfuhren nach franzöſiſchem Herkommen ohne Offenheit und verbargen ihre letzten Abſichten. Monatelang konnten die Miniſter unter Polignac’s unfähiger Leitung zu keinem Entſchluſſe gelangen, ſie beſorgten gemächlich ihre Verwaltungs- geſchäfte und wagten ſchlechterdings keinen tadelnswerthen Schritt. Trotz- dem verſchworen ſich die Blätter der Oppoſition, dieſem Cabinet das Re- gieren unmöglich zu machen, und ſchwelgten in wüthenden Beſchimpfungen, die von der amtlichen Zeitung ebenſo heftig erwidert wurden. Der Streit ward täglich giftiger, eben weil die Regierung noch nichts verſchuldet hatte. Bereits ſpürte man überall den Einfluß der Geſellſchaft Aide-toi, die aus Republikanern und Doctrinären gemiſcht, ſeit drei Jahren ſchon den Sturz der Bourbonen vorbereitete. In den Provinzen bildeten ſich Ver- eine, um zur Steuerverweigerung aufzufordern für den möglichen Fall, daß der König die Charte verletzen ſollte. Seit Neujahr 1830 gab dann Thiers mit einigen anderen jungen Talenten die Zeitung Le National heraus und entfaltete hier ungeſcheut das Banner der Tricolore. Eine Zeit lang hoffte Fürſt Polignac, durch Erfolge der auswärtigen Politik die Aufmerkſamkeit von den inneren Händeln abzulenken. Kaum ins Amt eingetreten legte er dem Könige einen großen Entwurf für die Neugeſtal- tung Europas vor: darnach ſollte die Türkei getheilt, der König der Nie- derlande in Konſtantinopel, der König von Sachſen in Aachen unterge- bracht, Preußen durch Sachſen und Holland vergrößert werden, Frankreich endlich ohne Schwertſtreich in den Beſitz von Belgien gelangen. Aber der Friede von Adrianopel zerſtörte die phantaſtiſchen Pläne noch bevor ſie den großen Mächten mitgetheilt waren. Nachher erhob ſich ein Streit mit dem Dey von Algier; ein freundliches Geſchick beſchied den Bourbonen, noch wenige Tage vor ihrem Sturze durch einen kühnen und geſchickten Angriff dem neuen Frankreich ſeine wichtigſte Kolonie zu erobern. Doch ſelbſt dieſer ſchöne Erfolg brachte die Nation nicht ab von dem einen Ge- danken, der ſich ihres Geiſtes bemächtigt hatte. Als der König am 2. März die Tagung der Kammern eröffnete, er- klärte er in der Thronrede feierlich: er werde die geheiligten Rechte ſeiner *) Bernſtorff an Maltzahn, 1. Februar 1830. Berichte von Maltzahn, 26. Januar 1830, von Werther 12. Auguſt 1829 ff.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/26>, abgerufen am 18.04.2024.