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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Der Hessische Landbote.
Die gesammte Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft ward hier als ein
Zustand des Raubes geschildert: "Ihr müsset geben was Euere unersättlichen
Presser fordern und tragen was sie Euch aufbürden; jeden Tag wird Dieb-
stahl an Euerem Eigenthum begangen unter dem Namen von Steuern,
um einige Fettwänste zu mästen" -- und so weiter: selbst den Ertrag der
Domänen rechnete Büchner mit zu den Abgaben, die dem darbenden Volke
abgepreßt würden. Die Brandschrift streute den ersten Samen eines Un-
krauts, das erst nach Jahren aufgehen sollte. Für den Augenblick wirkte
sie wenig; die Bauern, die den "Landboten" unter ihren Hausthüren
fanden, brachten die unheimliche Schrift meist selbst erschrocken der Obrigkeit.
Nun erhielt du Thil, der in den Mitteln wenig wählerisch war, durch
seine Spione Kunde von dem Treiben. Büchner entfloh zur rechten Zeit,
Weidig wurde nebst einigen seiner Freunde gefangen, und so war auch
auf diesem letzten Heerde des Aufruhrs die Flamme verlöscht. --


Während aller dieser Wirren wurde am Bundestage viele Jahre
lang der Streit um Luxemburg dahingeschleppt, ein elender Handel, bei
dem Alles was im deutschen Staatswesen faul war zu Tage trat: die Lüge
der gesammten Bundesverfassung, die zerfahrene Unklarheit der öffentlichen
Meinung, die Selbstsucht der kleinen Höfe, die Feigheit des Bundestags,
die Ränke der Westmächte, und leider auch die Schwäche der verständigen
Friedenspolitik Preußens. Das luxemburgische Land hatte seit Jahrhun-
derten die Schicksale der übrigen Provinzen Belgiens getheilt, mit ihnen
gemeinsam nach einander die Herrschaft Spaniens, Oesterreichs, Frank-
reichs, Hollands ertragen. Nur die Westhälfte des Landes war wallonisch,
aber auch in der deutschen Osthälfte konnte sich unter der beständigen
Fremdherrschaft ein deutsches Nationalgefühl unmöglich ausbilden. Die
Beschlüsse des Wiener Congresses, welche das Großherzogthum in den
Deutschen Bund einfügten, wurden im Lande selbst kaum bemerkt; wie
hätten auch die Massen des Volks diese dem erfinderischen Geiste Hans
von Gagern's entsprungene diplomatische Künstelei verstehen sollen? Die
Einwohner fühlten sich als Angehörige der katholischen Niederlande, und
sobald in Brüssel der Aufruhr gegen Holland begann, wehte auch in
Luxemburg überall die Fahne von Brabant. Die Hauptschuld an dieser
unheilvollen Wendung der Dinge trug unzweifelhaft der König der Nieder-
lande selber; er hatte die allerdings schwierige Doppelstellung des Groß-
herzogthums niemals beachtet, sondern dies deutsche Bundesland stets als
eine belgische Provinz behandelt und ihm weder eine eigene Verfassung
gewährt noch das vorgeschriebene deutsche Bundescontingent gebildet. Wäre
das Land, nach der Vorschrift der Bundesgesetze, durch luxemburgische
Bundestruppen behütet worden, so ließ sich der Aufstand, der anfangs
nur schwächlich auftrat, mit leichter Mühe ersticken. Völlig ungehindert,

Der Heſſiſche Landbote.
Die geſammte Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft ward hier als ein
Zuſtand des Raubes geſchildert: „Ihr müſſet geben was Euere unerſättlichen
Preſſer fordern und tragen was ſie Euch aufbürden; jeden Tag wird Dieb-
ſtahl an Euerem Eigenthum begangen unter dem Namen von Steuern,
um einige Fettwänſte zu mäſten“ — und ſo weiter: ſelbſt den Ertrag der
Domänen rechnete Büchner mit zu den Abgaben, die dem darbenden Volke
abgepreßt würden. Die Brandſchrift ſtreute den erſten Samen eines Un-
krauts, das erſt nach Jahren aufgehen ſollte. Für den Augenblick wirkte
ſie wenig; die Bauern, die den „Landboten“ unter ihren Hausthüren
fanden, brachten die unheimliche Schrift meiſt ſelbſt erſchrocken der Obrigkeit.
Nun erhielt du Thil, der in den Mitteln wenig wähleriſch war, durch
ſeine Spione Kunde von dem Treiben. Büchner entfloh zur rechten Zeit,
Weidig wurde nebſt einigen ſeiner Freunde gefangen, und ſo war auch
auf dieſem letzten Heerde des Aufruhrs die Flamme verlöſcht. —


Während aller dieſer Wirren wurde am Bundestage viele Jahre
lang der Streit um Luxemburg dahingeſchleppt, ein elender Handel, bei
dem Alles was im deutſchen Staatsweſen faul war zu Tage trat: die Lüge
der geſammten Bundesverfaſſung, die zerfahrene Unklarheit der öffentlichen
Meinung, die Selbſtſucht der kleinen Höfe, die Feigheit des Bundestags,
die Ränke der Weſtmächte, und leider auch die Schwäche der verſtändigen
Friedenspolitik Preußens. Das luxemburgiſche Land hatte ſeit Jahrhun-
derten die Schickſale der übrigen Provinzen Belgiens getheilt, mit ihnen
gemeinſam nach einander die Herrſchaft Spaniens, Oeſterreichs, Frank-
reichs, Hollands ertragen. Nur die Weſthälfte des Landes war walloniſch,
aber auch in der deutſchen Oſthälfte konnte ſich unter der beſtändigen
Fremdherrſchaft ein deutſches Nationalgefühl unmöglich ausbilden. Die
Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes, welche das Großherzogthum in den
Deutſchen Bund einfügten, wurden im Lande ſelbſt kaum bemerkt; wie
hätten auch die Maſſen des Volks dieſe dem erfinderiſchen Geiſte Hans
von Gagern’s entſprungene diplomatiſche Künſtelei verſtehen ſollen? Die
Einwohner fühlten ſich als Angehörige der katholiſchen Niederlande, und
ſobald in Brüſſel der Aufruhr gegen Holland begann, wehte auch in
Luxemburg überall die Fahne von Brabant. Die Hauptſchuld an dieſer
unheilvollen Wendung der Dinge trug unzweifelhaft der König der Nieder-
lande ſelber; er hatte die allerdings ſchwierige Doppelſtellung des Groß-
herzogthums niemals beachtet, ſondern dies deutſche Bundesland ſtets als
eine belgiſche Provinz behandelt und ihm weder eine eigene Verfaſſung
gewährt noch das vorgeſchriebene deutſche Bundescontingent gebildet. Wäre
das Land, nach der Vorſchrift der Bundesgeſetze, durch luxemburgiſche
Bundestruppen behütet worden, ſo ließ ſich der Aufſtand, der anfangs
nur ſchwächlich auftrat, mit leichter Mühe erſticken. Völlig ungehindert,

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[311/0325] Der Heſſiſche Landbote. Die geſammte Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft ward hier als ein Zuſtand des Raubes geſchildert: „Ihr müſſet geben was Euere unerſättlichen Preſſer fordern und tragen was ſie Euch aufbürden; jeden Tag wird Dieb- ſtahl an Euerem Eigenthum begangen unter dem Namen von Steuern, um einige Fettwänſte zu mäſten“ — und ſo weiter: ſelbſt den Ertrag der Domänen rechnete Büchner mit zu den Abgaben, die dem darbenden Volke abgepreßt würden. Die Brandſchrift ſtreute den erſten Samen eines Un- krauts, das erſt nach Jahren aufgehen ſollte. Für den Augenblick wirkte ſie wenig; die Bauern, die den „Landboten“ unter ihren Hausthüren fanden, brachten die unheimliche Schrift meiſt ſelbſt erſchrocken der Obrigkeit. Nun erhielt du Thil, der in den Mitteln wenig wähleriſch war, durch ſeine Spione Kunde von dem Treiben. Büchner entfloh zur rechten Zeit, Weidig wurde nebſt einigen ſeiner Freunde gefangen, und ſo war auch auf dieſem letzten Heerde des Aufruhrs die Flamme verlöſcht. — Während aller dieſer Wirren wurde am Bundestage viele Jahre lang der Streit um Luxemburg dahingeſchleppt, ein elender Handel, bei dem Alles was im deutſchen Staatsweſen faul war zu Tage trat: die Lüge der geſammten Bundesverfaſſung, die zerfahrene Unklarheit der öffentlichen Meinung, die Selbſtſucht der kleinen Höfe, die Feigheit des Bundestags, die Ränke der Weſtmächte, und leider auch die Schwäche der verſtändigen Friedenspolitik Preußens. Das luxemburgiſche Land hatte ſeit Jahrhun- derten die Schickſale der übrigen Provinzen Belgiens getheilt, mit ihnen gemeinſam nach einander die Herrſchaft Spaniens, Oeſterreichs, Frank- reichs, Hollands ertragen. Nur die Weſthälfte des Landes war walloniſch, aber auch in der deutſchen Oſthälfte konnte ſich unter der beſtändigen Fremdherrſchaft ein deutſches Nationalgefühl unmöglich ausbilden. Die Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes, welche das Großherzogthum in den Deutſchen Bund einfügten, wurden im Lande ſelbſt kaum bemerkt; wie hätten auch die Maſſen des Volks dieſe dem erfinderiſchen Geiſte Hans von Gagern’s entſprungene diplomatiſche Künſtelei verſtehen ſollen? Die Einwohner fühlten ſich als Angehörige der katholiſchen Niederlande, und ſobald in Brüſſel der Aufruhr gegen Holland begann, wehte auch in Luxemburg überall die Fahne von Brabant. Die Hauptſchuld an dieſer unheilvollen Wendung der Dinge trug unzweifelhaft der König der Nieder- lande ſelber; er hatte die allerdings ſchwierige Doppelſtellung des Groß- herzogthums niemals beachtet, ſondern dies deutſche Bundesland ſtets als eine belgiſche Provinz behandelt und ihm weder eine eigene Verfaſſung gewährt noch das vorgeſchriebene deutſche Bundescontingent gebildet. Wäre das Land, nach der Vorſchrift der Bundesgeſetze, durch luxemburgiſche Bundestruppen behütet worden, ſo ließ ſich der Aufſtand, der anfangs nur ſchwächlich auftrat, mit leichter Mühe erſticken. Völlig ungehindert,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/325>, abgerufen am 25.04.2024.