Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Vereinigten Niederlande.
behütet. Ein wunderbares Glück gestattete dieser Insel, ihren großartigen
Kampf um die Beherrschung der Meere unter so günstigen Umständen
zu führen, daß sie erst das europäische Gleichgewicht, dann die allgemeine
Völkerfreiheit zu vertheidigen schien. Der von Palmerston angekündigte
Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum-
stößlicher Glaubenssatz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt
doch zu bemerken, daß diese Politik, die so gern mit ihren unüberwindlichen
Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenlosen Muth zeigte,
vor den Starken behutsam die Segel strich. Dann fühlte man auch,
wie wenig Ernst hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig
er war gerade die frischeste Kraft des neuen Völkerlebens, das erstarkende
Deutschland zu verstehen, wie kleinsinnig er das natürliche Wachsthum der
Mitte Europas zu hemmen suchte. Endlich ward der maßlose englische
Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, seit Palmerston den
Briten sein civis Romanus sum zurief und damit alle anderen Nationen
als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer
Haß sammelte sich allmählich auf dem Festlande an, Englands einst
hochgefeierte Staatskunst verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der
Verachtung. Als Palmerston starb -- kurz bevor die Sieger von König-
grätz die ganze Rechnung seines Lebens mit einem bluthrothen Zuge
durchstrichen -- da war sein England kaum mehr eine europäische Groß-
macht; der Staat war hinausgewachsen aus dem alten Welttheil, er
wahrte nur noch seine orientalischen und transatlantischen Interessen, in
den Händeln des Festlands zählte seine Stimme nicht mit.

So langsam nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord
Palmerston in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens-
lust, unermüdlich und unergründlich, treu seinem Wappenspruche flecti
non frangi,
gehoben von der Gunst der liberalen Tagesmeinung, da er-
schien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit
den diplomatischen Schreckbildern der liberalen Pest, des jacobinischen
Krebses und der revolutionären Feuersbrunst war diesem Meister der
parlamentarischen Redensart nicht beizukommen. --

Unter allen den Erschütterungen, welche der Juli-Revolution folgten,
bedrohte keine den Weltfrieden so unmittelbar wie die Erhebung der Bel-
gier gegen die holländische Herrschaft. Bisher war trotz so mancher
Wirren doch mindestens der Länderbestand der neuen Staatengesellschaft
unverändert geblieben -- denn für Griechenland und die Türkei galten
die Wiener Verträge nicht: -- jetzt ward er plötzlich an seiner verwund-
barsten Stelle zerstört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der
großen Allianz im Wetteifer gehegte und verstärkte Bollwerk des euro-
päischen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande
brach bei der ersten Prüfung morsch zusammen, nicht ohne die Mitschuld
seiner Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer

Die Vereinigten Niederlande.
behütet. Ein wunderbares Glück geſtattete dieſer Inſel, ihren großartigen
Kampf um die Beherrſchung der Meere unter ſo günſtigen Umſtänden
zu führen, daß ſie erſt das europäiſche Gleichgewicht, dann die allgemeine
Völkerfreiheit zu vertheidigen ſchien. Der von Palmerſton angekündigte
Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum-
ſtößlicher Glaubensſatz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt
doch zu bemerken, daß dieſe Politik, die ſo gern mit ihren unüberwindlichen
Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenloſen Muth zeigte,
vor den Starken behutſam die Segel ſtrich. Dann fühlte man auch,
wie wenig Ernſt hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig
er war gerade die friſcheſte Kraft des neuen Völkerlebens, das erſtarkende
Deutſchland zu verſtehen, wie kleinſinnig er das natürliche Wachsthum der
Mitte Europas zu hemmen ſuchte. Endlich ward der maßloſe engliſche
Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, ſeit Palmerſton den
Briten ſein civis Romanus sum zurief und damit alle anderen Nationen
als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer
Haß ſammelte ſich allmählich auf dem Feſtlande an, Englands einſt
hochgefeierte Staatskunſt verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der
Verachtung. Als Palmerſton ſtarb — kurz bevor die Sieger von König-
grätz die ganze Rechnung ſeines Lebens mit einem bluthrothen Zuge
durchſtrichen — da war ſein England kaum mehr eine europäiſche Groß-
macht; der Staat war hinausgewachſen aus dem alten Welttheil, er
wahrte nur noch ſeine orientaliſchen und transatlantiſchen Intereſſen, in
den Händeln des Feſtlands zählte ſeine Stimme nicht mit.

So langſam nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord
Palmerſton in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens-
luſt, unermüdlich und unergründlich, treu ſeinem Wappenſpruche flecti
non frangi,
gehoben von der Gunſt der liberalen Tagesmeinung, da er-
ſchien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit
den diplomatiſchen Schreckbildern der liberalen Peſt, des jacobiniſchen
Krebſes und der revolutionären Feuersbrunſt war dieſem Meiſter der
parlamentariſchen Redensart nicht beizukommen. —

Unter allen den Erſchütterungen, welche der Juli-Revolution folgten,
bedrohte keine den Weltfrieden ſo unmittelbar wie die Erhebung der Bel-
gier gegen die holländiſche Herrſchaft. Bisher war trotz ſo mancher
Wirren doch mindeſtens der Länderbeſtand der neuen Staatengeſellſchaft
unverändert geblieben — denn für Griechenland und die Türkei galten
die Wiener Verträge nicht: — jetzt ward er plötzlich an ſeiner verwund-
barſten Stelle zerſtört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der
großen Allianz im Wetteifer gehegte und verſtärkte Bollwerk des euro-
päiſchen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande
brach bei der erſten Prüfung morſch zuſammen, nicht ohne die Mitſchuld
ſeiner Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0045" n="31"/><fw place="top" type="header">Die Vereinigten Niederlande.</fw><lb/>
behütet. Ein wunderbares Glück ge&#x017F;tattete die&#x017F;er In&#x017F;el, ihren großartigen<lb/>
Kampf um die Beherr&#x017F;chung der Meere unter &#x017F;o gün&#x017F;tigen Um&#x017F;tänden<lb/>
zu führen, daß &#x017F;ie er&#x017F;t das europäi&#x017F;che Gleichgewicht, dann die allgemeine<lb/>
Völkerfreiheit zu vertheidigen &#x017F;chien. Der von Palmer&#x017F;ton angekündigte<lb/>
Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum-<lb/>
&#x017F;tößlicher Glaubens&#x017F;atz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt<lb/>
doch zu bemerken, daß die&#x017F;e Politik, die &#x017F;o gern mit ihren unüberwindlichen<lb/>
Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenlo&#x017F;en Muth zeigte,<lb/>
vor den Starken behut&#x017F;am die Segel &#x017F;trich. Dann fühlte man auch,<lb/>
wie wenig Ern&#x017F;t hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig<lb/>
er war gerade die fri&#x017F;che&#x017F;te Kraft des neuen Völkerlebens, das er&#x017F;tarkende<lb/>
Deut&#x017F;chland zu ver&#x017F;tehen, wie klein&#x017F;innig er das natürliche Wachsthum der<lb/>
Mitte Europas zu hemmen &#x017F;uchte. Endlich ward der maßlo&#x017F;e engli&#x017F;che<lb/>
Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, &#x017F;eit Palmer&#x017F;ton den<lb/>
Briten &#x017F;ein <hi rendition="#aq">civis Romanus sum</hi> zurief und damit alle anderen Nationen<lb/>
als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer<lb/>
Haß &#x017F;ammelte &#x017F;ich allmählich auf dem Fe&#x017F;tlande an, Englands ein&#x017F;t<lb/>
hochgefeierte Staatskun&#x017F;t verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der<lb/>
Verachtung. Als Palmer&#x017F;ton &#x017F;tarb &#x2014; kurz bevor die Sieger von König-<lb/>
grätz die ganze Rechnung &#x017F;eines Lebens mit einem bluthrothen Zuge<lb/>
durch&#x017F;trichen &#x2014; da war &#x017F;ein England kaum mehr eine europäi&#x017F;che Groß-<lb/>
macht; der Staat war hinausgewach&#x017F;en aus dem alten Welttheil, er<lb/>
wahrte nur noch &#x017F;eine orientali&#x017F;chen und transatlanti&#x017F;chen Intere&#x017F;&#x017F;en, in<lb/>
den Händeln des Fe&#x017F;tlands zählte &#x017F;eine Stimme nicht mit.</p><lb/>
          <p>So lang&#x017F;am nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord<lb/>
Palmer&#x017F;ton in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens-<lb/>
lu&#x017F;t, unermüdlich und unergründlich, treu &#x017F;einem Wappen&#x017F;pruche <hi rendition="#aq">flecti<lb/>
non frangi,</hi> gehoben von der Gun&#x017F;t der liberalen Tagesmeinung, da er-<lb/>
&#x017F;chien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit<lb/>
den diplomati&#x017F;chen Schreckbildern der liberalen Pe&#x017F;t, des jacobini&#x017F;chen<lb/>
Kreb&#x017F;es und der revolutionären Feuersbrun&#x017F;t war die&#x017F;em Mei&#x017F;ter der<lb/>
parlamentari&#x017F;chen Redensart nicht beizukommen. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Unter allen den Er&#x017F;chütterungen, welche der Juli-Revolution folgten,<lb/>
bedrohte keine den Weltfrieden &#x017F;o unmittelbar wie die Erhebung der Bel-<lb/>
gier gegen die holländi&#x017F;che Herr&#x017F;chaft. Bisher war trotz &#x017F;o mancher<lb/>
Wirren doch minde&#x017F;tens der Länderbe&#x017F;tand der neuen Staatenge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
unverändert geblieben &#x2014; denn für Griechenland und die Türkei galten<lb/>
die Wiener Verträge nicht: &#x2014; jetzt ward er plötzlich an &#x017F;einer verwund-<lb/>
bar&#x017F;ten Stelle zer&#x017F;tört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der<lb/>
großen Allianz im Wetteifer gehegte und ver&#x017F;tärkte Bollwerk des euro-<lb/>
päi&#x017F;chen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande<lb/>
brach bei der er&#x017F;ten Prüfung mor&#x017F;ch zu&#x017F;ammen, nicht ohne die Mit&#x017F;chuld<lb/>
&#x017F;einer Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0045] Die Vereinigten Niederlande. behütet. Ein wunderbares Glück geſtattete dieſer Inſel, ihren großartigen Kampf um die Beherrſchung der Meere unter ſo günſtigen Umſtänden zu führen, daß ſie erſt das europäiſche Gleichgewicht, dann die allgemeine Völkerfreiheit zu vertheidigen ſchien. Der von Palmerſton angekündigte Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum- ſtößlicher Glaubensſatz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt doch zu bemerken, daß dieſe Politik, die ſo gern mit ihren unüberwindlichen Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenloſen Muth zeigte, vor den Starken behutſam die Segel ſtrich. Dann fühlte man auch, wie wenig Ernſt hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig er war gerade die friſcheſte Kraft des neuen Völkerlebens, das erſtarkende Deutſchland zu verſtehen, wie kleinſinnig er das natürliche Wachsthum der Mitte Europas zu hemmen ſuchte. Endlich ward der maßloſe engliſche Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, ſeit Palmerſton den Briten ſein civis Romanus sum zurief und damit alle anderen Nationen als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer Haß ſammelte ſich allmählich auf dem Feſtlande an, Englands einſt hochgefeierte Staatskunſt verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der Verachtung. Als Palmerſton ſtarb — kurz bevor die Sieger von König- grätz die ganze Rechnung ſeines Lebens mit einem bluthrothen Zuge durchſtrichen — da war ſein England kaum mehr eine europäiſche Groß- macht; der Staat war hinausgewachſen aus dem alten Welttheil, er wahrte nur noch ſeine orientaliſchen und transatlantiſchen Intereſſen, in den Händeln des Feſtlands zählte ſeine Stimme nicht mit. So langſam nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord Palmerſton in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens- luſt, unermüdlich und unergründlich, treu ſeinem Wappenſpruche flecti non frangi, gehoben von der Gunſt der liberalen Tagesmeinung, da er- ſchien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit den diplomatiſchen Schreckbildern der liberalen Peſt, des jacobiniſchen Krebſes und der revolutionären Feuersbrunſt war dieſem Meiſter der parlamentariſchen Redensart nicht beizukommen. — Unter allen den Erſchütterungen, welche der Juli-Revolution folgten, bedrohte keine den Weltfrieden ſo unmittelbar wie die Erhebung der Bel- gier gegen die holländiſche Herrſchaft. Bisher war trotz ſo mancher Wirren doch mindeſtens der Länderbeſtand der neuen Staatengeſellſchaft unverändert geblieben — denn für Griechenland und die Türkei galten die Wiener Verträge nicht: — jetzt ward er plötzlich an ſeiner verwund- barſten Stelle zerſtört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der großen Allianz im Wetteifer gehegte und verſtärkte Bollwerk des euro- päiſchen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande brach bei der erſten Prüfung morſch zuſammen, nicht ohne die Mitſchuld ſeiner Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/45
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/45>, abgerufen am 29.03.2024.