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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Oesterreichs Schwäche. Gentz.
born über die Ohnmacht des alten Systems. "Wir sind gezwungen," schrieb
er schon am 24. August, "wir sind nothgedrungen, Ludwig Philipp's Er-
haltung zu wünschen, car apres lui le deluge. Nehmen Sie hinzu, daß
der Stand der Dinge ein ganz anderer als im Jahre 1815, daß keine
der großen Mächte zum Kriege gehörig vorbereitet ist, und Sie werden
Sich nicht wundern, wenn le maintien de la paix von allen Seiten als
das große Losungswort erschallt. Heute müssen Sie Ihr tapferes Schwert
noch in der Scheide halten; gebe Gott, daß Sie es nicht allzu früh in
das Blut der Weltverderber tauchen müssen."*) Was war doch aus jener
streitbaren Feder geworden, die einst die gebieterischen Rundschreiben der
großen Congresse verfaßte! Gentz stand in seinem siebenundsechzigsten
Jahre. Die Mattigkeit des Alters kam über ihn, die Frische des Willens
und die Lust am Kampfe schwanden sichtlich, doch zugleich erwachten auch
wieder die zarten künstlerischen Triebe dieses reichen Geistes. Er verlebte
Augenblicke dithyrambischer Verzückung wie vor Zeiten, da er mit seinem
Friedrich Schlegel für die Lucinde geschwärmt hatte: "Wie, wenn Alles
vernünftig wäre! Gott bewahre uns. Alle Blüthen des Genusses fielen
plötzlich vom Baume des Lebens herab. Wer bei einem Buche nicht wahn-
sinnig, bei der Geliebten nicht ein Narr, im Kampfe nicht toll und unter
Pedanten und Philistern nicht blödsinnig zu sein versteht, der kennt die
Kunst des Lebens nicht." Die romantische Liebe zu der schönen Tänzerin
Fanny Elsler und der kaum minder phantastische Freundschaftsbund mit
dem jungen Prokesch v. Osten nahmen seine Seele ganz dahin, und zu-
gleich träumte er über Heine's Gedichten, bald tief gerührt, bald wollüstig
schaudernd, bald hoch entrüstet. Diese beständige, halb greisenhafte halb
jugendliche Erregung der Gefühle rieb seine Lebenskräfte auf, wie der nüch-
terne Metternich bald bemerkte.

Noch immer beobachtete er den Wandel der politischen Dinge mit
dem alten wunderbaren Scharfblick. Schon im letzten Jahre hatte er
vorausgesagt, die wilde Leidenschaft des satanischen Geschlechts der jakobi-
nischen "Mütz-Cujons", der doctrinäre Eigensinn der Liberalen und der
geheime Ehrgeiz des Bonapartismus müßten unfehlbar sehr bald einen
neuen Umsturz in Frankreich herbeiführen. Er wußte wohl, "diese neueste
Revolution war die entscheidendste und vollständigste, die Frankreich erlebt,"
weil sie das historische Recht endgiltig zerstörte. Allein unter den Zeit-
genossen erkannte er auch schon, daß die abermalige Erhebung der Fran-
zosen bei Weitem nicht so viel bedeutete wie der Einbruch der Demokratie
in das altaristokratische Staatsleben Englands; in diesem Umschwung
der englischen Verhältnisse sah er das eigentlich Neue, das Verhängniß
des Jahres 1830; immer wieder beschäftigte ihn die Sorge "was aus
dieser Nation geworden ist und nächstens werden wird." Aber den Kampf

*) Gentz an Tettenborn, 24. August 1830.

Oeſterreichs Schwäche. Gentz.
born über die Ohnmacht des alten Syſtems. „Wir ſind gezwungen,“ ſchrieb
er ſchon am 24. Auguſt, „wir ſind nothgedrungen, Ludwig Philipp’s Er-
haltung zu wünſchen, car après lui le déluge. Nehmen Sie hinzu, daß
der Stand der Dinge ein ganz anderer als im Jahre 1815, daß keine
der großen Mächte zum Kriege gehörig vorbereitet iſt, und Sie werden
Sich nicht wundern, wenn le maintien de la paix von allen Seiten als
das große Loſungswort erſchallt. Heute müſſen Sie Ihr tapferes Schwert
noch in der Scheide halten; gebe Gott, daß Sie es nicht allzu früh in
das Blut der Weltverderber tauchen müſſen.“*) Was war doch aus jener
ſtreitbaren Feder geworden, die einſt die gebieteriſchen Rundſchreiben der
großen Congreſſe verfaßte! Gentz ſtand in ſeinem ſiebenundſechzigſten
Jahre. Die Mattigkeit des Alters kam über ihn, die Friſche des Willens
und die Luſt am Kampfe ſchwanden ſichtlich, doch zugleich erwachten auch
wieder die zarten künſtleriſchen Triebe dieſes reichen Geiſtes. Er verlebte
Augenblicke dithyrambiſcher Verzückung wie vor Zeiten, da er mit ſeinem
Friedrich Schlegel für die Lucinde geſchwärmt hatte: „Wie, wenn Alles
vernünftig wäre! Gott bewahre uns. Alle Blüthen des Genuſſes fielen
plötzlich vom Baume des Lebens herab. Wer bei einem Buche nicht wahn-
ſinnig, bei der Geliebten nicht ein Narr, im Kampfe nicht toll und unter
Pedanten und Philiſtern nicht blödſinnig zu ſein verſteht, der kennt die
Kunſt des Lebens nicht.“ Die romantiſche Liebe zu der ſchönen Tänzerin
Fanny Elsler und der kaum minder phantaſtiſche Freundſchaftsbund mit
dem jungen Prokeſch v. Oſten nahmen ſeine Seele ganz dahin, und zu-
gleich träumte er über Heine’s Gedichten, bald tief gerührt, bald wollüſtig
ſchaudernd, bald hoch entrüſtet. Dieſe beſtändige, halb greiſenhafte halb
jugendliche Erregung der Gefühle rieb ſeine Lebenskräfte auf, wie der nüch-
terne Metternich bald bemerkte.

Noch immer beobachtete er den Wandel der politiſchen Dinge mit
dem alten wunderbaren Scharfblick. Schon im letzten Jahre hatte er
vorausgeſagt, die wilde Leidenſchaft des ſataniſchen Geſchlechts der jakobi-
niſchen „Mütz-Cujons“, der doctrinäre Eigenſinn der Liberalen und der
geheime Ehrgeiz des Bonapartismus müßten unfehlbar ſehr bald einen
neuen Umſturz in Frankreich herbeiführen. Er wußte wohl, „dieſe neueſte
Revolution war die entſcheidendſte und vollſtändigſte, die Frankreich erlebt,“
weil ſie das hiſtoriſche Recht endgiltig zerſtörte. Allein unter den Zeit-
genoſſen erkannte er auch ſchon, daß die abermalige Erhebung der Fran-
zoſen bei Weitem nicht ſo viel bedeutete wie der Einbruch der Demokratie
in das altariſtokratiſche Staatsleben Englands; in dieſem Umſchwung
der engliſchen Verhältniſſe ſah er das eigentlich Neue, das Verhängniß
des Jahres 1830; immer wieder beſchäftigte ihn die Sorge „was aus
dieſer Nation geworden iſt und nächſtens werden wird.“ Aber den Kampf

*) Gentz an Tettenborn, 24. Auguſt 1830.
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[39/0053] Oeſterreichs Schwäche. Gentz. born über die Ohnmacht des alten Syſtems. „Wir ſind gezwungen,“ ſchrieb er ſchon am 24. Auguſt, „wir ſind nothgedrungen, Ludwig Philipp’s Er- haltung zu wünſchen, car après lui le déluge. Nehmen Sie hinzu, daß der Stand der Dinge ein ganz anderer als im Jahre 1815, daß keine der großen Mächte zum Kriege gehörig vorbereitet iſt, und Sie werden Sich nicht wundern, wenn le maintien de la paix von allen Seiten als das große Loſungswort erſchallt. Heute müſſen Sie Ihr tapferes Schwert noch in der Scheide halten; gebe Gott, daß Sie es nicht allzu früh in das Blut der Weltverderber tauchen müſſen.“ *) Was war doch aus jener ſtreitbaren Feder geworden, die einſt die gebieteriſchen Rundſchreiben der großen Congreſſe verfaßte! Gentz ſtand in ſeinem ſiebenundſechzigſten Jahre. Die Mattigkeit des Alters kam über ihn, die Friſche des Willens und die Luſt am Kampfe ſchwanden ſichtlich, doch zugleich erwachten auch wieder die zarten künſtleriſchen Triebe dieſes reichen Geiſtes. Er verlebte Augenblicke dithyrambiſcher Verzückung wie vor Zeiten, da er mit ſeinem Friedrich Schlegel für die Lucinde geſchwärmt hatte: „Wie, wenn Alles vernünftig wäre! Gott bewahre uns. Alle Blüthen des Genuſſes fielen plötzlich vom Baume des Lebens herab. Wer bei einem Buche nicht wahn- ſinnig, bei der Geliebten nicht ein Narr, im Kampfe nicht toll und unter Pedanten und Philiſtern nicht blödſinnig zu ſein verſteht, der kennt die Kunſt des Lebens nicht.“ Die romantiſche Liebe zu der ſchönen Tänzerin Fanny Elsler und der kaum minder phantaſtiſche Freundſchaftsbund mit dem jungen Prokeſch v. Oſten nahmen ſeine Seele ganz dahin, und zu- gleich träumte er über Heine’s Gedichten, bald tief gerührt, bald wollüſtig ſchaudernd, bald hoch entrüſtet. Dieſe beſtändige, halb greiſenhafte halb jugendliche Erregung der Gefühle rieb ſeine Lebenskräfte auf, wie der nüch- terne Metternich bald bemerkte. Noch immer beobachtete er den Wandel der politiſchen Dinge mit dem alten wunderbaren Scharfblick. Schon im letzten Jahre hatte er vorausgeſagt, die wilde Leidenſchaft des ſataniſchen Geſchlechts der jakobi- niſchen „Mütz-Cujons“, der doctrinäre Eigenſinn der Liberalen und der geheime Ehrgeiz des Bonapartismus müßten unfehlbar ſehr bald einen neuen Umſturz in Frankreich herbeiführen. Er wußte wohl, „dieſe neueſte Revolution war die entſcheidendſte und vollſtändigſte, die Frankreich erlebt,“ weil ſie das hiſtoriſche Recht endgiltig zerſtörte. Allein unter den Zeit- genoſſen erkannte er auch ſchon, daß die abermalige Erhebung der Fran- zoſen bei Weitem nicht ſo viel bedeutete wie der Einbruch der Demokratie in das altariſtokratiſche Staatsleben Englands; in dieſem Umſchwung der engliſchen Verhältniſſe ſah er das eigentlich Neue, das Verhängniß des Jahres 1830; immer wieder beſchäftigte ihn die Sorge „was aus dieſer Nation geworden iſt und nächſtens werden wird.“ Aber den Kampf *) Gentz an Tettenborn, 24. Auguſt 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/53>, abgerufen am 28.03.2024.