Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite
Neunter Abschnitt.

Der welfische Staatsstreich.

Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz seiner parlamentarischen
Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine socialen Ideen
verbreiteten sich in der Stille, sie wurden allmählich zu Standesvor-
urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das sich jetzt, seit zu dem Wissen
der neue Wohlstand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation
hielt. Die scheinbare gesellschaftliche Gleichheit der Franzosen und das Ge-
setzbuch der durchgebildeten Geldwirthschaft, der Code Napoleon fanden
Bewunderung, nicht blos im Südwesten, auch in Thüringen, in Sachsen,
in den Städten der alten preußischen Provinzen. In diese demokratisirte,
den alten Standesunterschieden entfremdete Gesellschaft schlug nun eine
Gewaltthat hinein, welche auch die schlummernden politischen Leidenschaften
wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutschen Bundesrechts
den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsstreich, so frevelhaft, so unent-
schuldbar, so gemeinverständlich in seiner Roheit, daß der sittliche Ekel fast
alle irgend selbständigen Männer zum Widerspruche zwang und den Reihen
der liberalen Opposition mit einem male neue Kräfte zuführte.

Am 20. Juni 1837 starb König Wilhelm IV., und da nach deutschem
Rechte der Mannesstamm den Weibern vorging, so zerriß jetzt, zum Segen
für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunschweigischen
Lande durch vier Menschenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für
die Briten hatte diese Verbindung längst allen Werth verloren. Die han-
növerschen Truppen für englische Zwecke zu verwenden war unter dem
Deutschen Bunde kaum noch möglich; seit der Entstehung des preußischen
Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr so viel wie im
alten Jahrhundert. Seit der Zollverein gesichert war, konnte auch die
handelspolitische Dienstbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr
nützen. Einzelne kleine Gewinnste vermochte Palmerston's geschickte Hand
wohl noch aus dem deutschen Nebenlande herauszuschlagen; mit Han-
novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg
vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelstellung der Krone nur
als eine Last: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der

41*
Neunter Abſchnitt.

Der welfiſche Staatsſtreich.

Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen
Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen
verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor-
urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen
der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation
hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge-
ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden
Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen,
in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte,
den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine
Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften
wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts
den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent-
ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt
alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen
der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte.

Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm IV., und da nach deutſchem
Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen
für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen
Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für
die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han-
növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem
Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen
Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im
alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die
handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr
nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand
wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han-
novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg
vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur
als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der

41*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0657" n="[643]"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Neunter Ab&#x017F;chnitt.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/> Der welfi&#x017F;che Staats&#x017F;treich.</hi> </head><lb/>
          <p>Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz &#x017F;einer parlamentari&#x017F;chen<lb/>
Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine &#x017F;ocialen Ideen<lb/>
verbreiteten &#x017F;ich in der Stille, &#x017F;ie wurden allmählich zu Standesvor-<lb/>
urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das &#x017F;ich jetzt, &#x017F;eit zu dem Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
der neue Wohl&#x017F;tand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation<lb/>
hielt. Die &#x017F;cheinbare ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Gleichheit der Franzo&#x017F;en und das Ge-<lb/>
&#x017F;etzbuch der durchgebildeten Geldwirth&#x017F;chaft, der Code Napoleon fanden<lb/>
Bewunderung, nicht blos im Südwe&#x017F;ten, auch in Thüringen, in Sach&#x017F;en,<lb/>
in den Städten der alten preußi&#x017F;chen Provinzen. In die&#x017F;e demokrati&#x017F;irte,<lb/>
den alten Standesunter&#x017F;chieden entfremdete Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;chlug nun eine<lb/>
Gewaltthat hinein, welche auch die &#x017F;chlummernden politi&#x017F;chen Leiden&#x017F;chaften<lb/>
wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deut&#x017F;chen Bundesrechts<lb/>
den letzten Schleier hinwegriß, ein Staats&#x017F;treich, &#x017F;o frevelhaft, &#x017F;o unent-<lb/>
&#x017F;chuldbar, &#x017F;o gemeinver&#x017F;tändlich in &#x017F;einer Roheit, daß der &#x017F;ittliche Ekel fa&#x017F;t<lb/>
alle irgend &#x017F;elb&#x017F;tändigen Männer zum Wider&#x017F;pruche zwang und den Reihen<lb/>
der liberalen Oppo&#x017F;ition mit einem male neue Kräfte zuführte.</p><lb/>
          <p>Am 20. Juni 1837 &#x017F;tarb König Wilhelm <hi rendition="#aq">IV.</hi>, und da nach deut&#x017F;chem<lb/>
Rechte der Mannes&#x017F;tamm den Weibern vorging, &#x017F;o zerriß jetzt, zum Segen<lb/>
für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraun&#x017F;chweigi&#x017F;chen<lb/>
Lande durch vier Men&#x017F;chenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für<lb/>
die Briten hatte die&#x017F;e Verbindung läng&#x017F;t allen Werth verloren. Die han-<lb/>
növer&#x017F;chen Truppen für engli&#x017F;che Zwecke zu verwenden war unter dem<lb/>
Deut&#x017F;chen Bunde kaum noch möglich; &#x017F;eit der Ent&#x017F;tehung des preußi&#x017F;chen<lb/>
Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr &#x017F;o viel wie im<lb/>
alten Jahrhundert. Seit der Zollverein ge&#x017F;ichert war, konnte auch die<lb/>
handelspoliti&#x017F;che Dien&#x017F;tbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr<lb/>
nützen. Einzelne kleine Gewinn&#x017F;te vermochte Palmer&#x017F;ton&#x2019;s ge&#x017F;chickte Hand<lb/>
wohl noch aus dem deut&#x017F;chen Nebenlande herauszu&#x017F;chlagen; mit Han-<lb/>
novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg<lb/>
vereitelt. In der Regel empfand er die Doppel&#x017F;tellung der Krone nur<lb/>
als eine La&#x017F;t: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">41*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[643]/0657] Neunter Abſchnitt. Der welfiſche Staatsſtreich. Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor- urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge- ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen, in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte, den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent- ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte. Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm IV., und da nach deutſchem Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han- növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han- novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der 41*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/657
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [643]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/657>, abgerufen am 29.03.2024.