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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Aber noch weit weniger wollte Preußen durch bewaffnetes Einschreiten
dem Friedensbrecher Halt gebieten; diese Frage ward in Berlin nicht
einmal aufgeworfen, denn der gesammte Hof stand mit seinen Herzens-
wünschen auf der Seite des Oraniers. So ließ man denn unwillig die
französische Einmischung geschehen, zumal da sie überraschend schnell er-
folgte und rechtzeitig nicht mehr zu verhindern war. Ancillon klagte ent-
rüstet: "Frankreich hat ohne Scham und ohne Rückhalt eine empörende
Parteilichkeit für Belgien gezeigt." Sobald die Waffenruhe wieder her-
gestellt war, forderte König Friedrich Wilhelm auf der Londoner Con-
ferenz sehr nachdrücklich den ungesäumten Abmarsch der Franzosen; er
drohte nöthigenfalls seine rheinischen Regimenter einrücken zu lassen.
Da alle Mächte das Verlangen Preußens unterstützten, so sah sich Frank-
reich gezwungen diesmal Wort zu halten.*) Wenige Tage nach dem
Einmarsch begann schon der Rückzug der französischen Truppen, zu Ende
Septembers war Belgien wieder geräumt. Die Pariser tobten über die
erlittene Schmach; allesammt waren sie der bescheidenen Meinung, daß
Belgien durch einen leichten Handstreich mit Frankreich hätte vereinigt
werden müssen. Marschall Gerard wurde daheim wie ein Landesverräther
empfangen; er hatte, als seine Tapferen auf dem Schlachtfelde von Belle
Alliance dem niederländischen Löwendenkmal den Schwanz abzuhacken
begannen, dies löbliche Unternehmen verboten, und nun jammerte die
Presse des Volkes, das an der Spitze der Civilisation zu marschiren
wähnte, wie aus einem Munde: nicht einmal der Löwe von Waterloo
ist zerstört!

In Wahrheit hatte Perier's ruhige Entschlossenheit den Ostmächten
eine empfindliche Schlappe beigebracht. Frankreich allein war, ohne daß
die anderen Mächte zu widerstehen wagten, thatkräftig für den Frieden
eingetreten, sein Bürgerkönig erschien, für den Augenblick mindestens, als
der mächtige Schirmherr Belgiens. Und was für Ränke spann dieser
Orleans wieder hinter dem Rücken seines Ministers. In demselben
Augenblicke, da er zu Belgiens Gunsten die heilige Nichteinmischungslehre
mit Füßen trat, holte er schon aus zum Todesstoße wider seinen eigenen
Schützling. Bestimmter, zudringlicher als zuvor enthüllte Talleyrand jetzt
dem preußischen Gesandten seine begehrlichen Anschläge: der klägliche Ver-
lauf dieses Feldzugs habe doch zur Genüge bewiesen, daß Belgien nicht
durch eigene Kraft bestehen könne; am einfachsten also, wenn das Land
zwischen Preußen, Holland und Frankreich aufgetheilt würde; England
sei leicht zu gewinnen, wenn man in Antwerpen und Ostende Freihäfen
einrichte. Palmerston, der Andere stets nach seinem eigenen Charakter
beurtheilte, argwöhnte Anfangs, daß Bülow diesen Lockungen ein williges
Ohr leihe. Der Preuße aber lehnte Alles rundweg ab; wie hätte er

*) Ancillon an Maltzahn 11. August, an Schöler 17. September 1831.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Aber noch weit weniger wollte Preußen durch bewaffnetes Einſchreiten
dem Friedensbrecher Halt gebieten; dieſe Frage ward in Berlin nicht
einmal aufgeworfen, denn der geſammte Hof ſtand mit ſeinen Herzens-
wünſchen auf der Seite des Oraniers. So ließ man denn unwillig die
franzöſiſche Einmiſchung geſchehen, zumal da ſie überraſchend ſchnell er-
folgte und rechtzeitig nicht mehr zu verhindern war. Ancillon klagte ent-
rüſtet: „Frankreich hat ohne Scham und ohne Rückhalt eine empörende
Parteilichkeit für Belgien gezeigt.“ Sobald die Waffenruhe wieder her-
geſtellt war, forderte König Friedrich Wilhelm auf der Londoner Con-
ferenz ſehr nachdrücklich den ungeſäumten Abmarſch der Franzoſen; er
drohte nöthigenfalls ſeine rheiniſchen Regimenter einrücken zu laſſen.
Da alle Mächte das Verlangen Preußens unterſtützten, ſo ſah ſich Frank-
reich gezwungen diesmal Wort zu halten.*) Wenige Tage nach dem
Einmarſch begann ſchon der Rückzug der franzöſiſchen Truppen, zu Ende
Septembers war Belgien wieder geräumt. Die Pariſer tobten über die
erlittene Schmach; alleſammt waren ſie der beſcheidenen Meinung, daß
Belgien durch einen leichten Handſtreich mit Frankreich hätte vereinigt
werden müſſen. Marſchall Gerard wurde daheim wie ein Landesverräther
empfangen; er hatte, als ſeine Tapferen auf dem Schlachtfelde von Belle
Alliance dem niederländiſchen Löwendenkmal den Schwanz abzuhacken
begannen, dies löbliche Unternehmen verboten, und nun jammerte die
Preſſe des Volkes, das an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren
wähnte, wie aus einem Munde: nicht einmal der Löwe von Waterloo
iſt zerſtört!

In Wahrheit hatte Perier’s ruhige Entſchloſſenheit den Oſtmächten
eine empfindliche Schlappe beigebracht. Frankreich allein war, ohne daß
die anderen Mächte zu widerſtehen wagten, thatkräftig für den Frieden
eingetreten, ſein Bürgerkönig erſchien, für den Augenblick mindeſtens, als
der mächtige Schirmherr Belgiens. Und was für Ränke ſpann dieſer
Orleans wieder hinter dem Rücken ſeines Miniſters. In demſelben
Augenblicke, da er zu Belgiens Gunſten die heilige Nichteinmiſchungslehre
mit Füßen trat, holte er ſchon aus zum Todesſtoße wider ſeinen eigenen
Schützling. Beſtimmter, zudringlicher als zuvor enthüllte Talleyrand jetzt
dem preußiſchen Geſandten ſeine begehrlichen Anſchläge: der klägliche Ver-
lauf dieſes Feldzugs habe doch zur Genüge bewieſen, daß Belgien nicht
durch eigene Kraft beſtehen könne; am einfachſten alſo, wenn das Land
zwiſchen Preußen, Holland und Frankreich aufgetheilt würde; England
ſei leicht zu gewinnen, wenn man in Antwerpen und Oſtende Freihäfen
einrichte. Palmerſton, der Andere ſtets nach ſeinem eigenen Charakter
beurtheilte, argwöhnte Anfangs, daß Bülow dieſen Lockungen ein williges
Ohr leihe. Der Preuße aber lehnte Alles rundweg ab; wie hätte er

*) Ancillon an Maltzahn 11. Auguſt, an Schöler 17. September 1831.
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[78/0092] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. Aber noch weit weniger wollte Preußen durch bewaffnetes Einſchreiten dem Friedensbrecher Halt gebieten; dieſe Frage ward in Berlin nicht einmal aufgeworfen, denn der geſammte Hof ſtand mit ſeinen Herzens- wünſchen auf der Seite des Oraniers. So ließ man denn unwillig die franzöſiſche Einmiſchung geſchehen, zumal da ſie überraſchend ſchnell er- folgte und rechtzeitig nicht mehr zu verhindern war. Ancillon klagte ent- rüſtet: „Frankreich hat ohne Scham und ohne Rückhalt eine empörende Parteilichkeit für Belgien gezeigt.“ Sobald die Waffenruhe wieder her- geſtellt war, forderte König Friedrich Wilhelm auf der Londoner Con- ferenz ſehr nachdrücklich den ungeſäumten Abmarſch der Franzoſen; er drohte nöthigenfalls ſeine rheiniſchen Regimenter einrücken zu laſſen. Da alle Mächte das Verlangen Preußens unterſtützten, ſo ſah ſich Frank- reich gezwungen diesmal Wort zu halten. *) Wenige Tage nach dem Einmarſch begann ſchon der Rückzug der franzöſiſchen Truppen, zu Ende Septembers war Belgien wieder geräumt. Die Pariſer tobten über die erlittene Schmach; alleſammt waren ſie der beſcheidenen Meinung, daß Belgien durch einen leichten Handſtreich mit Frankreich hätte vereinigt werden müſſen. Marſchall Gerard wurde daheim wie ein Landesverräther empfangen; er hatte, als ſeine Tapferen auf dem Schlachtfelde von Belle Alliance dem niederländiſchen Löwendenkmal den Schwanz abzuhacken begannen, dies löbliche Unternehmen verboten, und nun jammerte die Preſſe des Volkes, das an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren wähnte, wie aus einem Munde: nicht einmal der Löwe von Waterloo iſt zerſtört! In Wahrheit hatte Perier’s ruhige Entſchloſſenheit den Oſtmächten eine empfindliche Schlappe beigebracht. Frankreich allein war, ohne daß die anderen Mächte zu widerſtehen wagten, thatkräftig für den Frieden eingetreten, ſein Bürgerkönig erſchien, für den Augenblick mindeſtens, als der mächtige Schirmherr Belgiens. Und was für Ränke ſpann dieſer Orleans wieder hinter dem Rücken ſeines Miniſters. In demſelben Augenblicke, da er zu Belgiens Gunſten die heilige Nichteinmiſchungslehre mit Füßen trat, holte er ſchon aus zum Todesſtoße wider ſeinen eigenen Schützling. Beſtimmter, zudringlicher als zuvor enthüllte Talleyrand jetzt dem preußiſchen Geſandten ſeine begehrlichen Anſchläge: der klägliche Ver- lauf dieſes Feldzugs habe doch zur Genüge bewieſen, daß Belgien nicht durch eigene Kraft beſtehen könne; am einfachſten alſo, wenn das Land zwiſchen Preußen, Holland und Frankreich aufgetheilt würde; England ſei leicht zu gewinnen, wenn man in Antwerpen und Oſtende Freihäfen einrichte. Palmerſton, der Andere ſtets nach ſeinem eigenen Charakter beurtheilte, argwöhnte Anfangs, daß Bülow dieſen Lockungen ein williges Ohr leihe. Der Preuße aber lehnte Alles rundweg ab; wie hätte er *) Ancillon an Maltzahn 11. Auguſt, an Schöler 17. September 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/92>, abgerufen am 28.03.2024.