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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

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Wir finden unter andern einige merkwürdige Aeuße¬
rungen über Voltaire, über die Größe und Bedeutung
seines Wirkens, die Macht seines Dastehens, die Eigen¬
heit seiner Natur und die Vollkommenheit seines Ta¬
lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einsteigen
in den Wagen auf Verlangen von Kloster-Pensionnai¬
rinnen noch schnell in allerliebsten Versen einen Prolog
zur beabsichtigten Aufführung eines seiner Trauerspiele
zu Papier gebracht, giebt den schönsten Beweis seiner
Fertigkeit, seiner Geistesfülle und Gegenwart. Wenn
jedoch Goethe von ihm rühmt, er habe in seinem un¬
aufhörlichen Schriftverkehr mit hohen und höchsten Per¬
sonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteste
Schicklichkeit stets beobachtet, so müssen wir einigen
Widerspruch erheben. Voltaire'n sind manche starke
Uebertretungen vorzuwerfen, besonders in seinem Brief¬
wechsel mit Friedrich dem Großen, worüber im Allge¬
meinen das treffliche Werk von Preuß nachzusehen ist.
Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬
heit oder Unwissenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus
Mangel an Takt, oder weil er sich aus Irrthum ver¬
greift: es ist vielmehr mit Bewußtsein und Absicht, daß
er seine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien
übt, es ist der Uebermuth des Talents und seiner Stel¬
lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von
Heine gesagt werden kann, dessen Grobheiten niemals

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Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬
rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung
ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬
heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬
lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen
in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬
rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog
zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele
zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner
Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn
jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬
aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬
ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte
Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen
Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke
Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬
wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬
meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt.
Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬
heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus
Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬
greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß
er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien
uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬
lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von
Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals

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[483/0497] 6. Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬ rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬ heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬ lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬ rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬ aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬ ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬ wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬ meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt. Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬ heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬ greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬ lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals 31 *

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/497>, abgerufen am 28.03.2024.