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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

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ten ihm durch üble Nachrede den kurzen Aufenthalt in
Berlin vollends. Daher seine Abneigung, dies Andenken
hervorzurufen und zu besprechen.

12.

Wie sehr Goethe sein ganzes Leben hindurch beflissen
war, im schönsten Sinne dankbar zu sein, das heißt
wahrhaft erkenntlich und liebevoll gesinnt für empfange¬
nes Gute, für jede Freude, Förderung, Einsicht, deren
er theilhaft geworden; wie sehr er selbst mit Vorsatz
und Eifer dieses Zurückgehen auf die Quelle des Em¬
pfangenen geübt und gelehrt: davon zeugen hundert
und hundert Stellen seiner Schriften. Aber neben die¬
ser großartigen Dankbarkeit, deren er stets erfüllt und
beflissen war, ging in den weichlichen Tugendlehren
früherer Zeit noch eine andre Art im Schwange, eine
feige, heuchlerische, treulose Dankbarkeit, die da rechnet
und wägt und sich nur immer äußerlich abfindet, be¬
sonders aber ein Anspruch an Andre sein will und ein
Schmuck und Glanz für den Inhaber. Diese niedrigen
Scheintugenden, wozu auch das übelverstandene, schlechte
Mitleid gehört, machten in der Moral, in der Poesie
und im Leben eine so häßliche Figur, daß die tüchtigen
Leute sie überall hinauszuwerfen bemüht waren, und
auf die Gefahr, selber verkannt und gescholten zu wer¬
den, ihnen laut absagten. So wollte Schleiermacher
in seiner Ethik von Mitleid und Dankbarkeit als Tugen¬

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ten ihm durch uͤble Nachrede den kurzen Aufenthalt in
Berlin vollends. Daher ſeine Abneigung, dies Andenken
hervorzurufen und zu beſprechen.

12.

Wie ſehr Goethe ſein ganzes Leben hindurch befliſſen
war, im ſchoͤnſten Sinne dankbar zu ſein, das heißt
wahrhaft erkenntlich und liebevoll geſinnt fuͤr empfange¬
nes Gute, fuͤr jede Freude, Foͤrderung, Einſicht, deren
er theilhaft geworden; wie ſehr er ſelbſt mit Vorſatz
und Eifer dieſes Zuruͤckgehen auf die Quelle des Em¬
pfangenen geuͤbt und gelehrt: davon zeugen hundert
und hundert Stellen ſeiner Schriften. Aber neben die¬
ſer großartigen Dankbarkeit, deren er ſtets erfuͤllt und
befliſſen war, ging in den weichlichen Tugendlehren
fruͤherer Zeit noch eine andre Art im Schwange, eine
feige, heuchleriſche, treuloſe Dankbarkeit, die da rechnet
und waͤgt und ſich nur immer aͤußerlich abfindet, be¬
ſonders aber ein Anſpruch an Andre ſein will und ein
Schmuck und Glanz fuͤr den Inhaber. Dieſe niedrigen
Scheintugenden, wozu auch das uͤbelverſtandene, ſchlechte
Mitleid gehoͤrt, machten in der Moral, in der Poeſie
und im Leben eine ſo haͤßliche Figur, daß die tuͤchtigen
Leute ſie uͤberall hinauszuwerfen bemuͤht waren, und
auf die Gefahr, ſelber verkannt und geſcholten zu wer¬
den, ihnen laut abſagten. So wollte Schleiermacher
in ſeiner Ethik von Mitleid und Dankbarkeit als Tugen¬

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[497/0511] ten ihm durch uͤble Nachrede den kurzen Aufenthalt in Berlin vollends. Daher ſeine Abneigung, dies Andenken hervorzurufen und zu beſprechen. 12. Wie ſehr Goethe ſein ganzes Leben hindurch befliſſen war, im ſchoͤnſten Sinne dankbar zu ſein, das heißt wahrhaft erkenntlich und liebevoll geſinnt fuͤr empfange¬ nes Gute, fuͤr jede Freude, Foͤrderung, Einſicht, deren er theilhaft geworden; wie ſehr er ſelbſt mit Vorſatz und Eifer dieſes Zuruͤckgehen auf die Quelle des Em¬ pfangenen geuͤbt und gelehrt: davon zeugen hundert und hundert Stellen ſeiner Schriften. Aber neben die¬ ſer großartigen Dankbarkeit, deren er ſtets erfuͤllt und befliſſen war, ging in den weichlichen Tugendlehren fruͤherer Zeit noch eine andre Art im Schwange, eine feige, heuchleriſche, treuloſe Dankbarkeit, die da rechnet und waͤgt und ſich nur immer aͤußerlich abfindet, be¬ ſonders aber ein Anſpruch an Andre ſein will und ein Schmuck und Glanz fuͤr den Inhaber. Dieſe niedrigen Scheintugenden, wozu auch das uͤbelverſtandene, ſchlechte Mitleid gehoͤrt, machten in der Moral, in der Poeſie und im Leben eine ſo haͤßliche Figur, daß die tuͤchtigen Leute ſie uͤberall hinauszuwerfen bemuͤht waren, und auf die Gefahr, ſelber verkannt und geſcholten zu wer¬ den, ihnen laut abſagten. So wollte Schleiermacher in ſeiner Ethik von Mitleid und Dankbarkeit als Tugen¬ 32

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/511>, abgerufen am 29.03.2024.