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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Vorrede.

Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens
ist es der Mehrzahl der praktischen Aerzte immer
schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eige-
nen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine ge-
wisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich ent-
schwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung,
sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schrif-
ten denjenigen mehr und mehr, welche in den oft so
mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre
beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die
Sprache der Medicin nimmt allmählig ein anderes
Aussehen an: bekannte Vorgänge, welche das herr-
schende System seinem Gedankenkreise an einem be-
stimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auf-
lösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung.
Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem
Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt,
ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als
eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache
genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten,
Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je voll-
kommener die Kenntniss des feineren Geschehens der
Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch
die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grund-
lagen der Erkenntniss anschliessen.

Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung
des Ueberlieferten die nothwendige Reform der An-
schauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir
zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfah-
rung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse
Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirk-
licher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein
zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allge-

Vorrede.

Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens
ist es der Mehrzahl der praktischen Aerzte immer
schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eige-
nen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine ge-
wisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich ent-
schwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung,
sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schrif-
ten denjenigen mehr und mehr, welche in den oft so
mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre
beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die
Sprache der Medicin nimmt allmählig ein anderes
Aussehen an: bekannte Vorgänge, welche das herr-
schende System seinem Gedankenkreise an einem be-
stimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auf-
lösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung.
Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem
Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt,
ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als
eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache
genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten,
Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je voll-
kommener die Kenntniss des feineren Geschehens der
Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch
die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grund-
lagen der Erkenntniss anschliessen.

Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung
des Ueberlieferten die nothwendige Reform der An-
schauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir
zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfah-
rung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse
Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirk-
licher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein
zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allge-

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[VI/0012] Vorrede. Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens ist es der Mehrzahl der praktischen Aerzte immer schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eige- nen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine ge- wisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich ent- schwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung, sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schrif- ten denjenigen mehr und mehr, welche in den oft so mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die Sprache der Medicin nimmt allmählig ein anderes Aussehen an: bekannte Vorgänge, welche das herr- schende System seinem Gedankenkreise an einem be- stimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auf- lösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung. Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt, ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten, Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je voll- kommener die Kenntniss des feineren Geschehens der Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grund- lagen der Erkenntniss anschliessen. Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung des Ueberlieferten die nothwendige Reform der An- schauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfah- rung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirk- licher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allge-

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/12>, abgerufen am 29.03.2024.