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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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sondern durch die Mitte des Besondern oder der Art. Diejenige Man-
gelhaftigkeit des Individuums, welche daraus fließt, daß es nur durch
diese Mitte die Gattung darstellt, kann noch nicht als Trübung ange-
sehen werden. Die Gattung theilt sich in Arten, diese als Gattung
wieder in Arten und jedes Individuum ist, sofern es nur Einer der
Arten angehören kann, ein bloses Bruchstück der Gattung. Dies Alles
kommt noch auf Rechnung der bestimmten Idee (§. 13. 15), denn
unter dieser sind nicht nur die Hauptstufen, sondern alle Arten der ein-
zelnen Stufe verstanden. Sey das Subjekt auch nur ein Bruchstück,
es ist und kann immer schön seyn, wenn es nur das, was es seyn
kann und soll und seiner Möglichkeit nach ist, auch ganz und wirklich
ist. Das Bruchstück selbst kann reicher oder ärmer seyn, die Gattung
durch eine vollere oder dürftigere Vereinigung der Kräfte derselben, wie
sie in Arten sich getheilt, in sich darstellen: daraus entsteht nicht ein
wesentlicher, sondern nur ein Grad-Unterschied. Die Trübung aber
scheint einzutreten durch das sich kreuzende Zusammenstoßen der Gattun-
gen und Arten auf Einem Raum und in Einer Zeit; diese nämlich
wird, so steht zu erwarten, dem Individuum solche Hindernisse in den
Weg legen, daß es auch seine noch so beschränkte Aufgabe nicht rein
lösen, sondern nur Bruchstück des Bruchstücks seyn kann.

§. 47.

In Wahrheit aber tritt diese Trübung zunächst durch die in §. 31 auf-
geführte Form der Zufälligkeit noch nicht ein. Ist nämlich die Gattung
überhaupt die ihr Individuum bildende Macht, so muß sie als ein unvergäng-
licher Typus wirken, der den Stoff zu seiner Durchführung in einem Individuum
zwar jederzeit durch das Zusammentreffen von Bedingungen, die in seinem Zu-
sammenseyn mit der Wirksamkeit anderer Typen liegen, sich geben lassen und
daher den Moment, wo er ein Individuum zeugen kann, gleichsam abwarten
muß; allein es gibt keinen Stoff an sich, der als selbständiges Prinzip diesem
Werk widerstreben könnte, jeder Gattungs-Typus verwendet zu der Zeugung
seiner Individuen den schon von andern geformten Stoff und wird daher in dem
Augenblicke zeugend, wo die geformten Stoffe, deren er bedarf, zusammentreten.

Zufälligkeit des Orts und der Zeit der Entstehung. Beyspiel: Die
Zeugenden müssen das Alter der Zeugungsfähigkeit erreicht haben, wenn
ein menschliches Individuum entstehen soll; eine Welt von schon ge-

ſondern durch die Mitte des Beſondern oder der Art. Diejenige Man-
gelhaftigkeit des Individuums, welche daraus fließt, daß es nur durch
dieſe Mitte die Gattung darſtellt, kann noch nicht als Trübung ange-
ſehen werden. Die Gattung theilt ſich in Arten, dieſe als Gattung
wieder in Arten und jedes Individuum iſt, ſofern es nur Einer der
Arten angehören kann, ein bloſes Bruchſtück der Gattung. Dies Alles
kommt noch auf Rechnung der beſtimmten Idee (§. 13. 15), denn
unter dieſer ſind nicht nur die Hauptſtufen, ſondern alle Arten der ein-
zelnen Stufe verſtanden. Sey das Subjekt auch nur ein Bruchſtück,
es iſt und kann immer ſchön ſeyn, wenn es nur das, was es ſeyn
kann und ſoll und ſeiner Möglichkeit nach iſt, auch ganz und wirklich
iſt. Das Bruchſtück ſelbſt kann reicher oder ärmer ſeyn, die Gattung
durch eine vollere oder dürftigere Vereinigung der Kräfte derſelben, wie
ſie in Arten ſich getheilt, in ſich darſtellen: daraus entſteht nicht ein
weſentlicher, ſondern nur ein Grad-Unterſchied. Die Trübung aber
ſcheint einzutreten durch das ſich kreuzende Zuſammenſtoßen der Gattun-
gen und Arten auf Einem Raum und in Einer Zeit; dieſe nämlich
wird, ſo ſteht zu erwarten, dem Individuum ſolche Hinderniſſe in den
Weg legen, daß es auch ſeine noch ſo beſchränkte Aufgabe nicht rein
löſen, ſondern nur Bruchſtück des Bruchſtücks ſeyn kann.

§. 47.

In Wahrheit aber tritt dieſe Trübung zunächſt durch die in §. 31 auf-
geführte Form der Zufälligkeit noch nicht ein. Iſt nämlich die Gattung
überhaupt die ihr Individuum bildende Macht, ſo muß ſie als ein unvergäng-
licher Typus wirken, der den Stoff zu ſeiner Durchführung in einem Individuum
zwar jederzeit durch das Zuſammentreffen von Bedingungen, die in ſeinem Zu-
ſammenſeyn mit der Wirkſamkeit anderer Typen liegen, ſich geben laſſen und
daher den Moment, wo er ein Individuum zeugen kann, gleichſam abwarten
muß; allein es gibt keinen Stoff an ſich, der als ſelbſtändiges Prinzip dieſem
Werk widerſtreben könnte, jeder Gattungs-Typus verwendet zu der Zeugung
ſeiner Individuen den ſchon von andern geformten Stoff und wird daher in dem
Augenblicke zeugend, wo die geformten Stoffe, deren er bedarf, zuſammentreten.

Zufälligkeit des Orts und der Zeit der Entſtehung. Beyſpiel: Die
Zeugenden müſſen das Alter der Zeugungsfähigkeit erreicht haben, wenn
ein menſchliches Individuum entſtehen ſoll; eine Welt von ſchon ge-

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[136/0150] ſondern durch die Mitte des Beſondern oder der Art. Diejenige Man- gelhaftigkeit des Individuums, welche daraus fließt, daß es nur durch dieſe Mitte die Gattung darſtellt, kann noch nicht als Trübung ange- ſehen werden. Die Gattung theilt ſich in Arten, dieſe als Gattung wieder in Arten und jedes Individuum iſt, ſofern es nur Einer der Arten angehören kann, ein bloſes Bruchſtück der Gattung. Dies Alles kommt noch auf Rechnung der beſtimmten Idee (§. 13. 15), denn unter dieſer ſind nicht nur die Hauptſtufen, ſondern alle Arten der ein- zelnen Stufe verſtanden. Sey das Subjekt auch nur ein Bruchſtück, es iſt und kann immer ſchön ſeyn, wenn es nur das, was es ſeyn kann und ſoll und ſeiner Möglichkeit nach iſt, auch ganz und wirklich iſt. Das Bruchſtück ſelbſt kann reicher oder ärmer ſeyn, die Gattung durch eine vollere oder dürftigere Vereinigung der Kräfte derſelben, wie ſie in Arten ſich getheilt, in ſich darſtellen: daraus entſteht nicht ein weſentlicher, ſondern nur ein Grad-Unterſchied. Die Trübung aber ſcheint einzutreten durch das ſich kreuzende Zuſammenſtoßen der Gattun- gen und Arten auf Einem Raum und in Einer Zeit; dieſe nämlich wird, ſo ſteht zu erwarten, dem Individuum ſolche Hinderniſſe in den Weg legen, daß es auch ſeine noch ſo beſchränkte Aufgabe nicht rein löſen, ſondern nur Bruchſtück des Bruchſtücks ſeyn kann. §. 47. In Wahrheit aber tritt dieſe Trübung zunächſt durch die in §. 31 auf- geführte Form der Zufälligkeit noch nicht ein. Iſt nämlich die Gattung überhaupt die ihr Individuum bildende Macht, ſo muß ſie als ein unvergäng- licher Typus wirken, der den Stoff zu ſeiner Durchführung in einem Individuum zwar jederzeit durch das Zuſammentreffen von Bedingungen, die in ſeinem Zu- ſammenſeyn mit der Wirkſamkeit anderer Typen liegen, ſich geben laſſen und daher den Moment, wo er ein Individuum zeugen kann, gleichſam abwarten muß; allein es gibt keinen Stoff an ſich, der als ſelbſtändiges Prinzip dieſem Werk widerſtreben könnte, jeder Gattungs-Typus verwendet zu der Zeugung ſeiner Individuen den ſchon von andern geformten Stoff und wird daher in dem Augenblicke zeugend, wo die geformten Stoffe, deren er bedarf, zuſammentreten. Zufälligkeit des Orts und der Zeit der Entſtehung. Beyſpiel: Die Zeugenden müſſen das Alter der Zeugungsfähigkeit erreicht haben, wenn ein menſchliches Individuum entſtehen ſoll; eine Welt von ſchon ge-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/150>, abgerufen am 28.03.2024.