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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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(§. 22) des Schönen und Guten. Das Gute ist die Thätigkeit, welche jene
Einheit als eine noch nicht vorhandene stets erst zu erarbeiten strebt, und ruht
also auf der Voraussetzung des Gegensatzes zwischen der Idee und der Wirk-
lichkeit. Auf diesem Standpunkte des Sollens (§. 2) kann, wiewohl auch jene
Thätigkeit nothwendig in Erscheinung tritt, nicht wie im Schönen danach gefragt
werden, wie die Erscheinung aussehe, ja derselbe bringt nicht nur eine Gleich-
gültigkeit, sondern auch ein Mißtrauen dagegen mit sich, daß das Zufällige in
der Individualität, wie es als wesentlich Berechtigtes in die schöne Form ein-
geht, dieses Recht genieße, ehe es wirklich durch den bearbeitenden Willen real
umgebildet ist, und da diese vergeistigende Durcharbeitung unendliche Aufgabe
bleibt, so ist dieses Mißtrauen ein beständiges. Das Ganze soll erst harmonisch
werden und das Einzelne als solches darf diese Harmonie nicht in der reinen
Form in Anspruch nehmen, als wäre sie vollendet.

Solger (Erwin, 1, 177): "Für die Thätigkeit des Willens,
worin die Güte liegt, ist das Hervorgebrachte, insofern es Erscheinung für
sich ist, gar nichts werth, sondern blos sofern es die aus dem reinen
göttlichen Begriff hervorgehende Handlung selbst nicht sowohl darstellt,
als wirklich ist." Wirth (System der speculativen Ethik S. 12 ff.)
stellt die Sittlichkeit darum höher als die Kunst, weil sich in ihr der Geist
als Wille in Wirklichkeit das erarbeitet, was ihm die Kunst durch Magie
schenkt, und weil diese Thätigkeit eine totale, auf die ganze widerstrebende
empirische Realität gerichtete ist, während die Kunst die letztere je nur
auf Einem Punkte idealisirt. Das Erstere ist treffend ausgedrückt S. 13:
"Fleisch und Blut nimmt so die Idee nicht an, wie das Ideal sie hin-
stellt. Das Empirische, die Nothwendigkeit, sich in die Gegensätze des
Willens und des Stoffs einzulassen und diesen zu bewältigen, wie die
andere, sich in der strengen Ordnung der Gesetzlichkeit zu bewegen, --
alles dies fällt fort für die Magie der schönen Phantasie, welche wie ein
zauberischer Gott dem Geiste eine fertige Welt, der Form eine fließende
Materie als ihre leichte Gegenwart leiht." Die Sittlichkeit hat allerdings
einen herberen, darum tieferen, und einen breiteren, ja unendlich breiten
Kampf. Allein dieser Kampf wird ebendarum niemals fertig, und weil
er niemals fertig ist, so ist die Schönheit gefordert, welche das, was nie
und immer fertig ist, d. h. was immer erst fertig wird, als wirklich
schon Fertiges in ihrem Scheine hinstellt. Dieser Schein ist als absolute
Vollendung im Einzelnen nur Schein, aber in ihm erscheint das ewige

(§. 22) des Schönen und Guten. Das Gute iſt die Thätigkeit, welche jene
Einheit als eine noch nicht vorhandene ſtets erſt zu erarbeiten ſtrebt, und ruht
alſo auf der Vorausſetzung des Gegenſatzes zwiſchen der Idee und der Wirk-
lichkeit. Auf dieſem Standpunkte des Sollens (§. 2) kann, wiewohl auch jene
Thätigkeit nothwendig in Erſcheinung tritt, nicht wie im Schönen danach gefragt
werden, wie die Erſcheinung ausſehe, ja derſelbe bringt nicht nur eine Gleich-
gültigkeit, ſondern auch ein Mißtrauen dagegen mit ſich, daß das Zufällige in
der Individualität, wie es als weſentlich Berechtigtes in die ſchöne Form ein-
geht, dieſes Recht genieße, ehe es wirklich durch den bearbeitenden Willen real
umgebildet iſt, und da dieſe vergeiſtigende Durcharbeitung unendliche Aufgabe
bleibt, ſo iſt dieſes Mißtrauen ein beſtändiges. Das Ganze ſoll erſt harmoniſch
werden und das Einzelne als ſolches darf dieſe Harmonie nicht in der reinen
Form in Anſpruch nehmen, als wäre ſie vollendet.

Solger (Erwin, 1, 177): „Für die Thätigkeit des Willens,
worin die Güte liegt, iſt das Hervorgebrachte, inſofern es Erſcheinung für
ſich iſt, gar nichts werth, ſondern blos ſofern es die aus dem reinen
göttlichen Begriff hervorgehende Handlung ſelbſt nicht ſowohl darſtellt,
als wirklich iſt.“ Wirth (Syſtem der ſpeculativen Ethik S. 12 ff.)
ſtellt die Sittlichkeit darum höher als die Kunſt, weil ſich in ihr der Geiſt
als Wille in Wirklichkeit das erarbeitet, was ihm die Kunſt durch Magie
ſchenkt, und weil dieſe Thätigkeit eine totale, auf die ganze widerſtrebende
empiriſche Realität gerichtete iſt, während die Kunſt die letztere je nur
auf Einem Punkte idealiſirt. Das Erſtere iſt treffend ausgedrückt S. 13:
„Fleiſch und Blut nimmt ſo die Idee nicht an, wie das Ideal ſie hin-
ſtellt. Das Empiriſche, die Nothwendigkeit, ſich in die Gegenſätze des
Willens und des Stoffs einzulaſſen und dieſen zu bewältigen, wie die
andere, ſich in der ſtrengen Ordnung der Geſetzlichkeit zu bewegen, —
alles dies fällt fort für die Magie der ſchönen Phantaſie, welche wie ein
zauberiſcher Gott dem Geiſte eine fertige Welt, der Form eine fließende
Materie als ihre leichte Gegenwart leiht.“ Die Sittlichkeit hat allerdings
einen herberen, darum tieferen, und einen breiteren, ja unendlich breiten
Kampf. Allein dieſer Kampf wird ebendarum niemals fertig, und weil
er niemals fertig iſt, ſo iſt die Schönheit gefordert, welche das, was nie
und immer fertig iſt, d. h. was immer erſt fertig wird, als wirklich
ſchon Fertiges in ihrem Scheine hinſtellt. Dieſer Schein iſt als abſolute
Vollendung im Einzelnen nur Schein, aber in ihm erſcheint das ewige

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[152/0166] (§. 22) des Schönen und Guten. Das Gute iſt die Thätigkeit, welche jene Einheit als eine noch nicht vorhandene ſtets erſt zu erarbeiten ſtrebt, und ruht alſo auf der Vorausſetzung des Gegenſatzes zwiſchen der Idee und der Wirk- lichkeit. Auf dieſem Standpunkte des Sollens (§. 2) kann, wiewohl auch jene Thätigkeit nothwendig in Erſcheinung tritt, nicht wie im Schönen danach gefragt werden, wie die Erſcheinung ausſehe, ja derſelbe bringt nicht nur eine Gleich- gültigkeit, ſondern auch ein Mißtrauen dagegen mit ſich, daß das Zufällige in der Individualität, wie es als weſentlich Berechtigtes in die ſchöne Form ein- geht, dieſes Recht genieße, ehe es wirklich durch den bearbeitenden Willen real umgebildet iſt, und da dieſe vergeiſtigende Durcharbeitung unendliche Aufgabe bleibt, ſo iſt dieſes Mißtrauen ein beſtändiges. Das Ganze ſoll erſt harmoniſch werden und das Einzelne als ſolches darf dieſe Harmonie nicht in der reinen Form in Anſpruch nehmen, als wäre ſie vollendet. Solger (Erwin, 1, 177): „Für die Thätigkeit des Willens, worin die Güte liegt, iſt das Hervorgebrachte, inſofern es Erſcheinung für ſich iſt, gar nichts werth, ſondern blos ſofern es die aus dem reinen göttlichen Begriff hervorgehende Handlung ſelbſt nicht ſowohl darſtellt, als wirklich iſt.“ Wirth (Syſtem der ſpeculativen Ethik S. 12 ff.) ſtellt die Sittlichkeit darum höher als die Kunſt, weil ſich in ihr der Geiſt als Wille in Wirklichkeit das erarbeitet, was ihm die Kunſt durch Magie ſchenkt, und weil dieſe Thätigkeit eine totale, auf die ganze widerſtrebende empiriſche Realität gerichtete iſt, während die Kunſt die letztere je nur auf Einem Punkte idealiſirt. Das Erſtere iſt treffend ausgedrückt S. 13: „Fleiſch und Blut nimmt ſo die Idee nicht an, wie das Ideal ſie hin- ſtellt. Das Empiriſche, die Nothwendigkeit, ſich in die Gegenſätze des Willens und des Stoffs einzulaſſen und dieſen zu bewältigen, wie die andere, ſich in der ſtrengen Ordnung der Geſetzlichkeit zu bewegen, — alles dies fällt fort für die Magie der ſchönen Phantaſie, welche wie ein zauberiſcher Gott dem Geiſte eine fertige Welt, der Form eine fließende Materie als ihre leichte Gegenwart leiht.“ Die Sittlichkeit hat allerdings einen herberen, darum tieferen, und einen breiteren, ja unendlich breiten Kampf. Allein dieſer Kampf wird ebendarum niemals fertig, und weil er niemals fertig iſt, ſo iſt die Schönheit gefordert, welche das, was nie und immer fertig iſt, d. h. was immer erſt fertig wird, als wirklich ſchon Fertiges in ihrem Scheine hinſtellt. Dieſer Schein iſt als abſolute Vollendung im Einzelnen nur Schein, aber in ihm erſcheint das ewige

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/166>, abgerufen am 29.03.2024.