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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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werth, weil es gut, sondern weil es schön ist, und das Schlechte nicht tadelns-
werth, weil es schlecht, sondern weil es häßlich ist. Uebrigens kann sich mit
dem Guten wie mit dem blos Zweckmäßigen (§. 23) die anhängende Schönheit
verbinden.

1. Es kann bei dieser Vergleichung mit dem ethischen Standpunkte
nicht vermieden werden, das Erhabene und Komische anzudeuten, denn
dies sind eben die Formen, wodurch das Schöne den sittlichen Kampf
in sich aufnimmt. Allein der Vorgriff ist um so zuläßiger, da hier
noch nicht als bewiesen vorausgesetzt ist, daß das Schöne diese Formen
in seinem eigenen Interesse schafft, sondern nur vorläufig angenommen,
daß es dem sittlichen Kampfe werde zu folgen vermögen (vergl. Anm.
zu §. 50). Im jetzigen Zusammenhang ist zu sagen, die Harmonie
bleibe trotzdem, daß dieser Kampf als Inhalt in das Schöne eingeht;
hingegen da, wo das Schöne selbst den Uebergang in diese streitenden
Formen fordert, wird der Uebergang ein ganz anderer seyn. Aber auch
dies kann vorläufig gesagt werden, daß nichts sicherer den Unterschied
des Schönen vom Guten beweist, als der Uebergang des Erhabenen in's
Komische. Der spezifisch ethische Standpunkt kennt die Komik nicht, weil
er nicht die Ruhe hat, das Reich der Zufälligkeit und des Eigensinns
einmal als unschädlich und in seiner Willkür selbst als berechtigt zu
erkennen. Allerdings wird ebendeßwegen gefordert, daß er sich in die
ästhetische Freiheit zu erheben wisse, und so darf es sogar als sittliche
Aufgabe erscheinen, sich nicht gegen die Komik zu verschließen, aber dies
ist Ergänzung der Ethik durch Hereinziehung einer Sphäre des absoluten
Geistes, nämlich eben der ästhetischen.

2. Im Schönen kommt es bei allen drei Formen, die sein Gebiet
mit dem ethischen gemein hat, darauf an, wie die Sache aussieht,
denn der Standpunkt bleibt immer der des reinen Entsprechens zwischen
dem Innern und Aeußern. Das Gute ist im Schönen aufgehoben im
Sinne von tollere und conservare: dasjenige an ihm, wodurch es ein
Besonderes und von der Welt der Formen Verschiedenes ist, erlischt.
Mit dem Guten verhält es sich im Schönen, wie mit dem Knochenge-
rüste im lebendigen Körper. Dieses wird nicht für sich sichtbar, sondern
nur, sofern es durch die Umgebung der weichen Theile hindurch erkennbar
ist, welche allerdings an ihm Halt und Basis haben. Ist es leidend,
so erscheinen auch diese unschön. Der Anatom zergliedert, nimmt als
Osteolog das Knochengerüste heraus: so fragt der Moralist nicht nach

werth, weil es gut, ſondern weil es ſchön iſt, und das Schlechte nicht tadelns-
werth, weil es ſchlecht, ſondern weil es häßlich iſt. Uebrigens kann ſich mit
dem Guten wie mit dem blos Zweckmäßigen (§. 23) die anhängende Schönheit
verbinden.

1. Es kann bei dieſer Vergleichung mit dem ethiſchen Standpunkte
nicht vermieden werden, das Erhabene und Komiſche anzudeuten, denn
dies ſind eben die Formen, wodurch das Schöne den ſittlichen Kampf
in ſich aufnimmt. Allein der Vorgriff iſt um ſo zuläßiger, da hier
noch nicht als bewieſen vorausgeſetzt iſt, daß das Schöne dieſe Formen
in ſeinem eigenen Intereſſe ſchafft, ſondern nur vorläufig angenommen,
daß es dem ſittlichen Kampfe werde zu folgen vermögen (vergl. Anm.
zu §. 50). Im jetzigen Zuſammenhang iſt zu ſagen, die Harmonie
bleibe trotzdem, daß dieſer Kampf als Inhalt in das Schöne eingeht;
hingegen da, wo das Schöne ſelbſt den Uebergang in dieſe ſtreitenden
Formen fordert, wird der Uebergang ein ganz anderer ſeyn. Aber auch
dies kann vorläufig geſagt werden, daß nichts ſicherer den Unterſchied
des Schönen vom Guten beweist, als der Uebergang des Erhabenen in’s
Komiſche. Der ſpezifiſch ethiſche Standpunkt kennt die Komik nicht, weil
er nicht die Ruhe hat, das Reich der Zufälligkeit und des Eigenſinns
einmal als unſchädlich und in ſeiner Willkür ſelbſt als berechtigt zu
erkennen. Allerdings wird ebendeßwegen gefordert, daß er ſich in die
äſthetiſche Freiheit zu erheben wiſſe, und ſo darf es ſogar als ſittliche
Aufgabe erſcheinen, ſich nicht gegen die Komik zu verſchließen, aber dies
iſt Ergänzung der Ethik durch Hereinziehung einer Sphäre des abſoluten
Geiſtes, nämlich eben der äſthetiſchen.

2. Im Schönen kommt es bei allen drei Formen, die ſein Gebiet
mit dem ethiſchen gemein hat, darauf an, wie die Sache ausſieht,
denn der Standpunkt bleibt immer der des reinen Entſprechens zwiſchen
dem Innern und Aeußern. Das Gute iſt im Schönen aufgehoben im
Sinne von tollere und conservare: dasjenige an ihm, wodurch es ein
Beſonderes und von der Welt der Formen Verſchiedenes iſt, erliſcht.
Mit dem Guten verhält es ſich im Schönen, wie mit dem Knochenge-
rüſte im lebendigen Körper. Dieſes wird nicht für ſich ſichtbar, ſondern
nur, ſofern es durch die Umgebung der weichen Theile hindurch erkennbar
iſt, welche allerdings an ihm Halt und Baſis haben. Iſt es leidend,
ſo erſcheinen auch dieſe unſchön. Der Anatom zergliedert, nimmt als
Oſteolog das Knochengerüſte heraus: ſo fragt der Moraliſt nicht nach

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[156/0170] werth, weil es gut, ſondern weil es ſchön iſt, und das Schlechte nicht tadelns- werth, weil es ſchlecht, ſondern weil es häßlich iſt. Uebrigens kann ſich mit dem Guten wie mit dem blos Zweckmäßigen (§. 23) die anhängende Schönheit verbinden. 1. Es kann bei dieſer Vergleichung mit dem ethiſchen Standpunkte nicht vermieden werden, das Erhabene und Komiſche anzudeuten, denn dies ſind eben die Formen, wodurch das Schöne den ſittlichen Kampf in ſich aufnimmt. Allein der Vorgriff iſt um ſo zuläßiger, da hier noch nicht als bewieſen vorausgeſetzt iſt, daß das Schöne dieſe Formen in ſeinem eigenen Intereſſe ſchafft, ſondern nur vorläufig angenommen, daß es dem ſittlichen Kampfe werde zu folgen vermögen (vergl. Anm. zu §. 50). Im jetzigen Zuſammenhang iſt zu ſagen, die Harmonie bleibe trotzdem, daß dieſer Kampf als Inhalt in das Schöne eingeht; hingegen da, wo das Schöne ſelbſt den Uebergang in dieſe ſtreitenden Formen fordert, wird der Uebergang ein ganz anderer ſeyn. Aber auch dies kann vorläufig geſagt werden, daß nichts ſicherer den Unterſchied des Schönen vom Guten beweist, als der Uebergang des Erhabenen in’s Komiſche. Der ſpezifiſch ethiſche Standpunkt kennt die Komik nicht, weil er nicht die Ruhe hat, das Reich der Zufälligkeit und des Eigenſinns einmal als unſchädlich und in ſeiner Willkür ſelbſt als berechtigt zu erkennen. Allerdings wird ebendeßwegen gefordert, daß er ſich in die äſthetiſche Freiheit zu erheben wiſſe, und ſo darf es ſogar als ſittliche Aufgabe erſcheinen, ſich nicht gegen die Komik zu verſchließen, aber dies iſt Ergänzung der Ethik durch Hereinziehung einer Sphäre des abſoluten Geiſtes, nämlich eben der äſthetiſchen. 2. Im Schönen kommt es bei allen drei Formen, die ſein Gebiet mit dem ethiſchen gemein hat, darauf an, wie die Sache ausſieht, denn der Standpunkt bleibt immer der des reinen Entſprechens zwiſchen dem Innern und Aeußern. Das Gute iſt im Schönen aufgehoben im Sinne von tollere und conservare: dasjenige an ihm, wodurch es ein Beſonderes und von der Welt der Formen Verſchiedenes iſt, erliſcht. Mit dem Guten verhält es ſich im Schönen, wie mit dem Knochenge- rüſte im lebendigen Körper. Dieſes wird nicht für ſich ſichtbar, ſondern nur, ſofern es durch die Umgebung der weichen Theile hindurch erkennbar iſt, welche allerdings an ihm Halt und Baſis haben. Iſt es leidend, ſo erſcheinen auch dieſe unſchön. Der Anatom zergliedert, nimmt als Oſteolog das Knochengerüſte heraus: ſo fragt der Moraliſt nicht nach

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/170>, abgerufen am 28.03.2024.