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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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und den heiteren Schein, die Beweglichkeit seines sinnlichen Elements, den
Blitz der Erfindung gleichmäßig in ihrem Werthe zu erkennen; aber freilich
die Kürze eines Menschenlebens und die Schranke aller menschlichen Dinge
wird ihn hindern, das Erkannte in der eigenen Persönlichkeit durchzuführen.

In Widerspruch mit dem Obigen scheint es zu stehen, daß Schelling,
der den Dualismus des Reflexions-Begriffs überwand, dennoch zuerst
die Schönheit unbedingt über die Wahrheit setzte. Allein er überwand
ihn zunächst eben in der Form vorauseilender Ahnung und Phantasie,
war selbst ein Dichter in der Sphäre der Philosophie, und so war ihm
die Kunst die höchste Ineinsbildung des Idealen und Realen, der
Freiheit und Nothwendigkeit, des Bewußten und Unbewußten, die Lösung
eines unendlichen Widerspruchs. Da in der Philosophie selbst diese
Lösung nur durch Phantasie gefunden war, so mußte die Kunst natürlich
auch über die Philosophie gestellt werden. Im System des transcenden-
talen Idealismus (S. 468 ff.) sprach daher Schelling noch folgende
Sätze aus: obgleich die Wissenschaft in ihrer höchsten Function mit der
Kunst Eine und dieselbe Aufgabe hat, so ist doch diese Aufgabe wegen
der Art, sie zu lösen, für die Wissenschaft eine unendliche, so daß man
sagen kann, die Kunst sey das Vorbild der Wissenschaft, und wo die
Kunst sey, solle die Wissenschaft erst hinkommen. Die Wissenschaft geht
von einem Prinzip aus, das als das absolut Identische schlechthin nicht
objectiv ist und doch durch Begriffe nicht aufgefaßt und dargestellt werden
kann. Die Kunst allein liefert durch die allgemeine und von allen
Menschen anerkannte Objectivität einer unmittelbaren Anschauung den
Beweis, daß das absolut Identische, an sich weder Sub- noch Objective,
welches der Inhalt einer nur intellectuellen Anschauung ist, keine blos
subjective Täuschung sey. Die ästhetische Anschauung ist die objectiv
gewordene intellectuelle. Die Einbildungskraft hebt einen unendlichen
Gegensatz in einem endlichen Producte auf. Die Kunst ist daher das
einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie,
welches immer und fortwährend auf's Neue beurkundet, was die Philo-
sophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln
und Produciren und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten.
Die Kunst ist ebendeswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm
das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Ver-
einigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und
Geschichte gesondert ist und was im Leben und Handeln ebenso wie im
Denken ewig sich fliehen muß. Die Philosophie, so wie sie in der

und den heiteren Schein, die Beweglichkeit ſeines ſinnlichen Elements, den
Blitz der Erfindung gleichmäßig in ihrem Werthe zu erkennen; aber freilich
die Kürze eines Menſchenlebens und die Schranke aller menſchlichen Dinge
wird ihn hindern, das Erkannte in der eigenen Perſönlichkeit durchzuführen.

In Widerſpruch mit dem Obigen ſcheint es zu ſtehen, daß Schelling,
der den Dualismus des Reflexions-Begriffs überwand, dennoch zuerſt
die Schönheit unbedingt über die Wahrheit ſetzte. Allein er überwand
ihn zunächſt eben in der Form vorauseilender Ahnung und Phantaſie,
war ſelbſt ein Dichter in der Sphäre der Philoſophie, und ſo war ihm
die Kunſt die höchſte Ineinsbildung des Idealen und Realen, der
Freiheit und Nothwendigkeit, des Bewußten und Unbewußten, die Löſung
eines unendlichen Widerſpruchs. Da in der Philoſophie ſelbſt dieſe
Löſung nur durch Phantaſie gefunden war, ſo mußte die Kunſt natürlich
auch über die Philoſophie geſtellt werden. Im Syſtem des tranſcenden-
talen Idealismus (S. 468 ff.) ſprach daher Schelling noch folgende
Sätze aus: obgleich die Wiſſenſchaft in ihrer höchſten Function mit der
Kunſt Eine und dieſelbe Aufgabe hat, ſo iſt doch dieſe Aufgabe wegen
der Art, ſie zu löſen, für die Wiſſenſchaft eine unendliche, ſo daß man
ſagen kann, die Kunſt ſey das Vorbild der Wiſſenſchaft, und wo die
Kunſt ſey, ſolle die Wiſſenſchaft erſt hinkommen. Die Wiſſenſchaft geht
von einem Prinzip aus, das als das abſolut Identiſche ſchlechthin nicht
objectiv iſt und doch durch Begriffe nicht aufgefaßt und dargeſtellt werden
kann. Die Kunſt allein liefert durch die allgemeine und von allen
Menſchen anerkannte Objectivität einer unmittelbaren Anſchauung den
Beweis, daß das abſolut Identiſche, an ſich weder Sub- noch Objective,
welches der Inhalt einer nur intellectuellen Anſchauung iſt, keine blos
ſubjective Täuſchung ſey. Die äſthetiſche Anſchauung iſt die objectiv
gewordene intellectuelle. Die Einbildungskraft hebt einen unendlichen
Gegenſatz in einem endlichen Producte auf. Die Kunſt iſt daher das
einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philoſophie,
welches immer und fortwährend auf’s Neue beurkundet, was die Philo-
ſophie äußerlich nicht darſtellen kann, nämlich das Bewußtloſe im Handeln
und Produciren und ſeine urſprüngliche Identität mit dem Bewußten.
Die Kunſt iſt ebendeswegen dem Philoſophen das Höchſte, weil ſie ihm
das Allerheiligſte gleichſam öffnet, wo in ewiger und urſprünglicher Ver-
einigung gleichſam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und
Geſchichte geſondert iſt und was im Leben und Handeln ebenſo wie im
Denken ewig ſich fliehen muß. Die Philoſophie, ſo wie ſie in der

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[175/0189] und den heiteren Schein, die Beweglichkeit ſeines ſinnlichen Elements, den Blitz der Erfindung gleichmäßig in ihrem Werthe zu erkennen; aber freilich die Kürze eines Menſchenlebens und die Schranke aller menſchlichen Dinge wird ihn hindern, das Erkannte in der eigenen Perſönlichkeit durchzuführen. In Widerſpruch mit dem Obigen ſcheint es zu ſtehen, daß Schelling, der den Dualismus des Reflexions-Begriffs überwand, dennoch zuerſt die Schönheit unbedingt über die Wahrheit ſetzte. Allein er überwand ihn zunächſt eben in der Form vorauseilender Ahnung und Phantaſie, war ſelbſt ein Dichter in der Sphäre der Philoſophie, und ſo war ihm die Kunſt die höchſte Ineinsbildung des Idealen und Realen, der Freiheit und Nothwendigkeit, des Bewußten und Unbewußten, die Löſung eines unendlichen Widerſpruchs. Da in der Philoſophie ſelbſt dieſe Löſung nur durch Phantaſie gefunden war, ſo mußte die Kunſt natürlich auch über die Philoſophie geſtellt werden. Im Syſtem des tranſcenden- talen Idealismus (S. 468 ff.) ſprach daher Schelling noch folgende Sätze aus: obgleich die Wiſſenſchaft in ihrer höchſten Function mit der Kunſt Eine und dieſelbe Aufgabe hat, ſo iſt doch dieſe Aufgabe wegen der Art, ſie zu löſen, für die Wiſſenſchaft eine unendliche, ſo daß man ſagen kann, die Kunſt ſey das Vorbild der Wiſſenſchaft, und wo die Kunſt ſey, ſolle die Wiſſenſchaft erſt hinkommen. Die Wiſſenſchaft geht von einem Prinzip aus, das als das abſolut Identiſche ſchlechthin nicht objectiv iſt und doch durch Begriffe nicht aufgefaßt und dargeſtellt werden kann. Die Kunſt allein liefert durch die allgemeine und von allen Menſchen anerkannte Objectivität einer unmittelbaren Anſchauung den Beweis, daß das abſolut Identiſche, an ſich weder Sub- noch Objective, welches der Inhalt einer nur intellectuellen Anſchauung iſt, keine blos ſubjective Täuſchung ſey. Die äſthetiſche Anſchauung iſt die objectiv gewordene intellectuelle. Die Einbildungskraft hebt einen unendlichen Gegenſatz in einem endlichen Producte auf. Die Kunſt iſt daher das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philoſophie, welches immer und fortwährend auf’s Neue beurkundet, was die Philo- ſophie äußerlich nicht darſtellen kann, nämlich das Bewußtloſe im Handeln und Produciren und ſeine urſprüngliche Identität mit dem Bewußten. Die Kunſt iſt ebendeswegen dem Philoſophen das Höchſte, weil ſie ihm das Allerheiligſte gleichſam öffnet, wo in ewiger und urſprünglicher Ver- einigung gleichſam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geſchichte geſondert iſt und was im Leben und Handeln ebenſo wie im Denken ewig ſich fliehen muß. Die Philoſophie, ſo wie ſie in der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/189>, abgerufen am 28.03.2024.