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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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zustellen, und mit ihm alles Dauernde als vergänglich, so kommt dadurch die reine
Unendlichkeit der Zeit zum Ausdruck, wogegen das längste Daseyn ein ver-
schwindender Punkt ist. Dies ist die negative Form. Da aber die unendliche
Zeit nur das fortlaufende Setzen verschwindender Punkte ist, so stellt sich das
Gefühl der Nichtigkeit dieser ganzen Kategorie ein und sucht die Anschauung die
Sphäre einer andern.

1. Für die verschiedene Modification des Gefühls der Vergangenheit
und Zukunft, je nachdem die Gegenwart schlechter oder besser ist, als jene,
je nachdem eine schlechtere oder bessere Zukunft erwartet wird, bietet sich
eine Fülle von Beispielen von selber dar. Der Rückblick oder Ausblick auf
die verschiedenen Lebensalter ist von besonders ergreifender Wirkung. Es
ist natürlich, daß auch hier der Gegenstand nicht gleichgültig ist, wie denn
z. B. Vergangenheit und Zukunft von Völkern sich anders fühlt, als von
Individuen. Ein besonders starkes Gefühl erregt das unerwartete Herein-
ragen einer Vergangenheit in die Gegenwart, wie in der Geschichte von dem
verschütteten Bergmann in Falun, das Wiederfinden in Tiecks "Zauber-
pokal", die Aufgrabung von Pompeji. Bei aller Verschiedenheit der
Modificationen wird im Gefühle der Vergangenheit, selbst wenn sie schlechter
war, immer ein wehmüthiger, der Zukunft, selbst wenn sie besser gehofft
wird, ein banger Ton das bestimmende seyn. Die Gegenwart aber
läßt sich auch im Gefühle nicht fassen; ich kann nur zurück oder vorwärts
fühlen. Nur dann kann ihr ein besonderes Gefühl zugeschrieben werden,
wenn stark bezeichnete Zeiteinschnitte das Gefühl der Vergangenheit und
Zukunft auf Einen Punkt concentriren, wie z. B. in der Zwölfe einer
Neujahrsnacht.

2. Man wird finden, wie die Aufhebung des Zeitgefühls in ein
anderes der Aufhebung des Raumsgefühls in jenes genau entspricht. Es
ist der nämliche Gang und bedarf keiner Auseinandersetzung. Daß auch
das negativ Erhabene der Zeit sinnlich erscheinen muß, folgt aus dem
Wesen des Schönen. Kirchhöfe, Gräberstätte, Trümmer großer und
starker Gebäude u. dgl. Phantasievoll verkörpert Shakespeare die Zeit
selbst: "Der alte Glöckner Zeit, der kahle Küster".

Indem sich aber das Gefühl in dem Widerspruche der Zeitform
ermüdet, fordert es eine andere Form, welche im Raume und in der
Zeit über beiden ist. Dies ist der Uebergang.


Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 16

zuſtellen, und mit ihm alles Dauernde als vergänglich, ſo kommt dadurch die reine
Unendlichkeit der Zeit zum Ausdruck, wogegen das längſte Daſeyn ein ver-
ſchwindender Punkt iſt. Dies iſt die negative Form. Da aber die unendliche
Zeit nur das fortlaufende Setzen verſchwindender Punkte iſt, ſo ſtellt ſich das
Gefühl der Nichtigkeit dieſer ganzen Kategorie ein und ſucht die Anſchauung die
Sphäre einer andern.

1. Für die verſchiedene Modification des Gefühls der Vergangenheit
und Zukunft, je nachdem die Gegenwart ſchlechter oder beſſer iſt, als jene,
je nachdem eine ſchlechtere oder beſſere Zukunft erwartet wird, bietet ſich
eine Fülle von Beiſpielen von ſelber dar. Der Rückblick oder Ausblick auf
die verſchiedenen Lebensalter iſt von beſonders ergreifender Wirkung. Es
iſt natürlich, daß auch hier der Gegenſtand nicht gleichgültig iſt, wie denn
z. B. Vergangenheit und Zukunft von Völkern ſich anders fühlt, als von
Individuen. Ein beſonders ſtarkes Gefühl erregt das unerwartete Herein-
ragen einer Vergangenheit in die Gegenwart, wie in der Geſchichte von dem
verſchütteten Bergmann in Falun, das Wiederfinden in Tiecks „Zauber-
pokal“, die Aufgrabung von Pompeji. Bei aller Verſchiedenheit der
Modificationen wird im Gefühle der Vergangenheit, ſelbſt wenn ſie ſchlechter
war, immer ein wehmüthiger, der Zukunft, ſelbſt wenn ſie beſſer gehofft
wird, ein banger Ton das beſtimmende ſeyn. Die Gegenwart aber
läßt ſich auch im Gefühle nicht faſſen; ich kann nur zurück oder vorwärts
fühlen. Nur dann kann ihr ein beſonderes Gefühl zugeſchrieben werden,
wenn ſtark bezeichnete Zeiteinſchnitte das Gefühl der Vergangenheit und
Zukunft auf Einen Punkt concentriren, wie z. B. in der Zwölfe einer
Neujahrsnacht.

2. Man wird finden, wie die Aufhebung des Zeitgefühls in ein
anderes der Aufhebung des Raumsgefühls in jenes genau entſpricht. Es
iſt der nämliche Gang und bedarf keiner Auseinanderſetzung. Daß auch
das negativ Erhabene der Zeit ſinnlich erſcheinen muß, folgt aus dem
Weſen des Schönen. Kirchhöfe, Gräberſtätte, Trümmer großer und
ſtarker Gebäude u. dgl. Phantaſievoll verkörpert Shakespeare die Zeit
ſelbſt: „Der alte Glöckner Zeit, der kahle Küſter“.

Indem ſich aber das Gefühl in dem Widerſpruche der Zeitform
ermüdet, fordert es eine andere Form, welche im Raume und in der
Zeit über beiden iſt. Dies iſt der Uebergang.


Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 16
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[241/0255] zuſtellen, und mit ihm alles Dauernde als vergänglich, ſo kommt dadurch die reine Unendlichkeit der Zeit zum Ausdruck, wogegen das längſte Daſeyn ein ver- ſchwindender Punkt iſt. Dies iſt die negative Form. Da aber die unendliche Zeit nur das fortlaufende Setzen verſchwindender Punkte iſt, ſo ſtellt ſich das Gefühl der Nichtigkeit dieſer ganzen Kategorie ein und ſucht die Anſchauung die Sphäre einer andern. 1. Für die verſchiedene Modification des Gefühls der Vergangenheit und Zukunft, je nachdem die Gegenwart ſchlechter oder beſſer iſt, als jene, je nachdem eine ſchlechtere oder beſſere Zukunft erwartet wird, bietet ſich eine Fülle von Beiſpielen von ſelber dar. Der Rückblick oder Ausblick auf die verſchiedenen Lebensalter iſt von beſonders ergreifender Wirkung. Es iſt natürlich, daß auch hier der Gegenſtand nicht gleichgültig iſt, wie denn z. B. Vergangenheit und Zukunft von Völkern ſich anders fühlt, als von Individuen. Ein beſonders ſtarkes Gefühl erregt das unerwartete Herein- ragen einer Vergangenheit in die Gegenwart, wie in der Geſchichte von dem verſchütteten Bergmann in Falun, das Wiederfinden in Tiecks „Zauber- pokal“, die Aufgrabung von Pompeji. Bei aller Verſchiedenheit der Modificationen wird im Gefühle der Vergangenheit, ſelbſt wenn ſie ſchlechter war, immer ein wehmüthiger, der Zukunft, ſelbſt wenn ſie beſſer gehofft wird, ein banger Ton das beſtimmende ſeyn. Die Gegenwart aber läßt ſich auch im Gefühle nicht faſſen; ich kann nur zurück oder vorwärts fühlen. Nur dann kann ihr ein beſonderes Gefühl zugeſchrieben werden, wenn ſtark bezeichnete Zeiteinſchnitte das Gefühl der Vergangenheit und Zukunft auf Einen Punkt concentriren, wie z. B. in der Zwölfe einer Neujahrsnacht. 2. Man wird finden, wie die Aufhebung des Zeitgefühls in ein anderes der Aufhebung des Raumsgefühls in jenes genau entſpricht. Es iſt der nämliche Gang und bedarf keiner Auseinanderſetzung. Daß auch das negativ Erhabene der Zeit ſinnlich erſcheinen muß, folgt aus dem Weſen des Schönen. Kirchhöfe, Gräberſtätte, Trümmer großer und ſtarker Gebäude u. dgl. Phantaſievoll verkörpert Shakespeare die Zeit ſelbſt: „Der alte Glöckner Zeit, der kahle Küſter“. Indem ſich aber das Gefühl in dem Widerſpruche der Zeitform ermüdet, fordert es eine andere Form, welche im Raume und in der Zeit über beiden iſt. Dies iſt der Uebergang. Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 16

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/255>, abgerufen am 29.03.2024.