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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Form bewährt aber einen Willen, dem die Bezwingung des Affects zur andern
2Natur geworden ist. Diese vollendete Festigkeit heißt in ihrer Erscheinung
Würde. Durch das Stehendwerden in der Erscheinung verliert aber auch leicht
der innere Werth.

1. Beispiel der positiven Form im negativ Pathetischen ist der furcht-
lose Kampf eines schon verwundeten, der negativen das ruhige Aushalten
eines dem feindlichen Feuer ausgesetzten Kriegers. In höherer Sphäre
bewaffnet die edle Scham, das Ehrgefühl, die Begeisterung den Leidenden
gegen den niederschlagenden Affect, während der ruhig und streng gefaßte
Geist sich einfach in die Ataraxie der abstracten Freiheit zurückzieht. Dort
ein Zorn gegen sich selbst im Gedanken einer möglichen Feigheit, hier die
kalte und feste Ruhe. Dies ist freilich nur unter Bedingungen die er-
habenere Form, dann nämlich, wenn nicht gehandelt werden kann. Ein
Ludwig XVI, der zuletzt apathisch das Scheußlichste erträgt, wo er
handeln sollte, ist ein unästhetisches Bild; es brauchte viele dichterische
Kraft, eine solche Erscheinung erträglich zu machen, die jedoch Shakes-
peare
in Heinrich VI wunderbar gezeigt hat.

2. Den Begriff der Würde hat Schiller (Ueber Anmuth und Würde)
gründlich entwickelt. Würde ist die sittliche Erhabenheit als die zur andern
Natur gewordene, nicht nur alle Bewegungen beherrschende, sondern auch
den ruhenden Formen als fester Stempel aufgedrückte Gewohnheit der Be-
herrschung des Affects. Sie muß sich natürlich auch in der Versuchung zu
haltungsloser Lust bewähren, aber der eigentliche Moment ihrer Bewährung
ist die Versuchung zum Erliegen in der Unlust. Die Zeichen des Leidens
haben hier den kleinstmöglichen Raum, aber ebendadurch entsteht leicht der
Verdacht der Unempfindlichkeit und das Erhabene ist aufgehoben. Ueberhaupt
hat der Begriff etwas Aeußerliches. Denn da die Würde ein vollkommener
Niederschlag der inneren Erhabenheit in der Erscheinung ist oder wie sie
Solger (Aesth. S. 88. 89) bestimmt: "die in die Wirklichkeit der Er-
scheinung übergegangene Erhabenheit -- die Erhabenheit zum Zustand des
gemeinen Lebens geworden", so verflüchtigt sich in dieser Verfestigung leicht
der Spiritus. Daher sucht man Würde vorzüglich als constanten Typus
gewisser Stände, Aemter u. s. w., wo denn nicht mehr gefragt wird, ob
der Einzelne auch von dem sittlichen Gewichte des Amts erfüllt sey, sondern
ein gewisser Mechanismus der Repräsentation eintritt. Es ist freilich
etwas Anderes, wenn Lear sagt: "Jeder Zoll ein König."


Form bewährt aber einen Willen, dem die Bezwingung des Affects zur andern
2Natur geworden iſt. Dieſe vollendete Feſtigkeit heißt in ihrer Erſcheinung
Würde. Durch das Stehendwerden in der Erſcheinung verliert aber auch leicht
der innere Werth.

1. Beiſpiel der poſitiven Form im negativ Pathetiſchen iſt der furcht-
loſe Kampf eines ſchon verwundeten, der negativen das ruhige Aushalten
eines dem feindlichen Feuer ausgeſetzten Kriegers. In höherer Sphäre
bewaffnet die edle Scham, das Ehrgefühl, die Begeiſterung den Leidenden
gegen den niederſchlagenden Affect, während der ruhig und ſtreng gefaßte
Geiſt ſich einfach in die Ataraxie der abſtracten Freiheit zurückzieht. Dort
ein Zorn gegen ſich ſelbſt im Gedanken einer möglichen Feigheit, hier die
kalte und feſte Ruhe. Dies iſt freilich nur unter Bedingungen die er-
habenere Form, dann nämlich, wenn nicht gehandelt werden kann. Ein
Ludwig XVI, der zuletzt apathiſch das Scheußlichſte erträgt, wo er
handeln ſollte, iſt ein unäſthetiſches Bild; es brauchte viele dichteriſche
Kraft, eine ſolche Erſcheinung erträglich zu machen, die jedoch Shakes-
peare
in Heinrich VI wunderbar gezeigt hat.

2. Den Begriff der Würde hat Schiller (Ueber Anmuth und Würde)
gründlich entwickelt. Würde iſt die ſittliche Erhabenheit als die zur andern
Natur gewordene, nicht nur alle Bewegungen beherrſchende, ſondern auch
den ruhenden Formen als feſter Stempel aufgedrückte Gewohnheit der Be-
herrſchung des Affects. Sie muß ſich natürlich auch in der Verſuchung zu
haltungsloſer Luſt bewähren, aber der eigentliche Moment ihrer Bewährung
iſt die Verſuchung zum Erliegen in der Unluſt. Die Zeichen des Leidens
haben hier den kleinſtmöglichen Raum, aber ebendadurch entſteht leicht der
Verdacht der Unempfindlichkeit und das Erhabene iſt aufgehoben. Ueberhaupt
hat der Begriff etwas Aeußerliches. Denn da die Würde ein vollkommener
Niederſchlag der inneren Erhabenheit in der Erſcheinung iſt oder wie ſie
Solger (Aeſth. S. 88. 89) beſtimmt: „die in die Wirklichkeit der Er-
ſcheinung übergegangene Erhabenheit — die Erhabenheit zum Zuſtand des
gemeinen Lebens geworden“, ſo verflüchtigt ſich in dieſer Verfeſtigung leicht
der Spiritus. Daher ſucht man Würde vorzüglich als conſtanten Typus
gewiſſer Stände, Aemter u. ſ. w., wo denn nicht mehr gefragt wird, ob
der Einzelne auch von dem ſittlichen Gewichte des Amts erfüllt ſey, ſondern
ein gewiſſer Mechanismus der Repräſentation eintritt. Es iſt freilich
etwas Anderes, wenn Lear ſagt: „Jeder Zoll ein König.“


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[272/0286] Form bewährt aber einen Willen, dem die Bezwingung des Affects zur andern Natur geworden iſt. Dieſe vollendete Feſtigkeit heißt in ihrer Erſcheinung Würde. Durch das Stehendwerden in der Erſcheinung verliert aber auch leicht der innere Werth. 1. Beiſpiel der poſitiven Form im negativ Pathetiſchen iſt der furcht- loſe Kampf eines ſchon verwundeten, der negativen das ruhige Aushalten eines dem feindlichen Feuer ausgeſetzten Kriegers. In höherer Sphäre bewaffnet die edle Scham, das Ehrgefühl, die Begeiſterung den Leidenden gegen den niederſchlagenden Affect, während der ruhig und ſtreng gefaßte Geiſt ſich einfach in die Ataraxie der abſtracten Freiheit zurückzieht. Dort ein Zorn gegen ſich ſelbſt im Gedanken einer möglichen Feigheit, hier die kalte und feſte Ruhe. Dies iſt freilich nur unter Bedingungen die er- habenere Form, dann nämlich, wenn nicht gehandelt werden kann. Ein Ludwig XVI, der zuletzt apathiſch das Scheußlichſte erträgt, wo er handeln ſollte, iſt ein unäſthetiſches Bild; es brauchte viele dichteriſche Kraft, eine ſolche Erſcheinung erträglich zu machen, die jedoch Shakes- peare in Heinrich VI wunderbar gezeigt hat. 2. Den Begriff der Würde hat Schiller (Ueber Anmuth und Würde) gründlich entwickelt. Würde iſt die ſittliche Erhabenheit als die zur andern Natur gewordene, nicht nur alle Bewegungen beherrſchende, ſondern auch den ruhenden Formen als feſter Stempel aufgedrückte Gewohnheit der Be- herrſchung des Affects. Sie muß ſich natürlich auch in der Verſuchung zu haltungsloſer Luſt bewähren, aber der eigentliche Moment ihrer Bewährung iſt die Verſuchung zum Erliegen in der Unluſt. Die Zeichen des Leidens haben hier den kleinſtmöglichen Raum, aber ebendadurch entſteht leicht der Verdacht der Unempfindlichkeit und das Erhabene iſt aufgehoben. Ueberhaupt hat der Begriff etwas Aeußerliches. Denn da die Würde ein vollkommener Niederſchlag der inneren Erhabenheit in der Erſcheinung iſt oder wie ſie Solger (Aeſth. S. 88. 89) beſtimmt: „die in die Wirklichkeit der Er- ſcheinung übergegangene Erhabenheit — die Erhabenheit zum Zuſtand des gemeinen Lebens geworden“, ſo verflüchtigt ſich in dieſer Verfeſtigung leicht der Spiritus. Daher ſucht man Würde vorzüglich als conſtanten Typus gewiſſer Stände, Aemter u. ſ. w., wo denn nicht mehr gefragt wird, ob der Einzelne auch von dem ſittlichen Gewichte des Amts erfüllt ſey, ſondern ein gewiſſer Mechanismus der Repräſentation eintritt. Es iſt freilich etwas Anderes, wenn Lear ſagt: „Jeder Zoll ein König.“

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/286>, abgerufen am 28.03.2024.