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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 120.

Diese Nothwendigkeit als das Gesetz einer sittlichen Welt breitet sich in1
unterschiedene Kreise des sittlichen Lebens, die absolute sittliche Macht in be-
sondere sittliche Mächte aus (vergl. §. 20); denn sie kann sich keinen andern
Inhalt geben, als indem sie die Naturtriebe mit der Freiheit des Geistes
durchdringt und der natürliche Unterschied dieser begründet daher in ihrer Um-
bildung selbst den Unterschied der sittlichen Mächte oder Ideen. Dieser Unter-2
schied gestaltet sich zum Gegensatze, der Gegensatz ist aber in der absoluten
Idee, welche nunmehr als absolutes Subject gefaßt ist, in harmonische Einheit
aufgehoben.

1. Die Welt der sittlichen Mächte ist in §. 20 vorausgesetzt als
etwas, das die Aesthetik nicht zu begründen hat. Auch hier wäre dies
nicht nöthig, wenn nicht diese sittlichen Grundzwecke im Erhabenen mit
dem besonderen Nachdruck einzuführen wären, daß in ihrem Unterschiede
eine Quelle des sittlichen Conflictes liegt, was in unserer Entwicklung
sofort hervortreten wird. Im Schönen ist eine ruhige Einheit des Triebs
oder der Neigung mit einem sittlichen Lebensmotive gegeben; der
sittliche Charakter kann außer dem Kampfe auch als harmonisches Bild
die Wirkung der Anmuth mit der Hohheit verbinden. Im Erhabenen
aber hat er zu kämpfen, daher erscheint der Naturtrieb, auch wo er als
Pathos sich positiv zu dem sittlichen Streben verhält, in der Form eines
gewaltsam mit Fortgerissenen oder Unterworfenen; ist er aber auch unter-
worfen, so treibt er doch als befeuernde Gewalt das an sich berechtigte
Pathos über das Maß, das ihm durch seine Einordnung in die Ge-
sammtheit der sittlichen Zwecke vorgeschrieben ist, hinaus. Deswegen
wurde hier der Naturtrieb als Basis der Unterschiede in der sittlichen Welt
ausdrücklich hervorgehoben. Solche Unterschiede sind z. B. Liebe, Familie,
Ehre, Staat, im Staat der Unterschied der Stände, wie er auf der
Geburt ruht, der einzelnen Gewalten, wie diesem ebenfalls geistig um-
gebildete Naturtriebe, Rache, Herrschtrieb u. s. w. zu Grunde liegen,
der Krieg, wie er auf Gegensatz der Volksabstammung ruht u. s. w.

2. Was vorher absolute Idee hieß (§. 10. 11), heißt jetzt absolutes
Subject im Sinne der Entgegensetzung des freien geistigen Mittelpunkts gegen
die objectiv bindende Gewalt der Naturnothwendigkeit, welche wir in
die sittliche noch nicht aufgelöst haben. Im absoluten Subjecte nun sind
die sittlichen Sphären in Einheit. An sich collidirt der Staatszweck nicht

§. 120.

Dieſe Nothwendigkeit als das Geſetz einer ſittlichen Welt breitet ſich in1
unterſchiedene Kreiſe des ſittlichen Lebens, die abſolute ſittliche Macht in be-
ſondere ſittliche Mächte aus (vergl. §. 20); denn ſie kann ſich keinen andern
Inhalt geben, als indem ſie die Naturtriebe mit der Freiheit des Geiſtes
durchdringt und der natürliche Unterſchied dieſer begründet daher in ihrer Um-
bildung ſelbſt den Unterſchied der ſittlichen Mächte oder Ideen. Dieſer Unter-2
ſchied geſtaltet ſich zum Gegenſatze, der Gegenſatz iſt aber in der abſoluten
Idee, welche nunmehr als abſolutes Subject gefaßt iſt, in harmoniſche Einheit
aufgehoben.

1. Die Welt der ſittlichen Mächte iſt in §. 20 vorausgeſetzt als
etwas, das die Aeſthetik nicht zu begründen hat. Auch hier wäre dies
nicht nöthig, wenn nicht dieſe ſittlichen Grundzwecke im Erhabenen mit
dem beſonderen Nachdruck einzuführen wären, daß in ihrem Unterſchiede
eine Quelle des ſittlichen Conflictes liegt, was in unſerer Entwicklung
ſofort hervortreten wird. Im Schönen iſt eine ruhige Einheit des Triebs
oder der Neigung mit einem ſittlichen Lebensmotive gegeben; der
ſittliche Charakter kann außer dem Kampfe auch als harmoniſches Bild
die Wirkung der Anmuth mit der Hohheit verbinden. Im Erhabenen
aber hat er zu kämpfen, daher erſcheint der Naturtrieb, auch wo er als
Pathos ſich poſitiv zu dem ſittlichen Streben verhält, in der Form eines
gewaltſam mit Fortgeriſſenen oder Unterworfenen; iſt er aber auch unter-
worfen, ſo treibt er doch als befeuernde Gewalt das an ſich berechtigte
Pathos über das Maß, das ihm durch ſeine Einordnung in die Ge-
ſammtheit der ſittlichen Zwecke vorgeſchrieben iſt, hinaus. Deswegen
wurde hier der Naturtrieb als Baſis der Unterſchiede in der ſittlichen Welt
ausdrücklich hervorgehoben. Solche Unterſchiede ſind z. B. Liebe, Familie,
Ehre, Staat, im Staat der Unterſchied der Stände, wie er auf der
Geburt ruht, der einzelnen Gewalten, wie dieſem ebenfalls geiſtig um-
gebildete Naturtriebe, Rache, Herrſchtrieb u. ſ. w. zu Grunde liegen,
der Krieg, wie er auf Gegenſatz der Volksabſtammung ruht u. ſ. w.

2. Was vorher abſolute Idee hieß (§. 10. 11), heißt jetzt abſolutes
Subject im Sinne der Entgegenſetzung des freien geiſtigen Mittelpunkts gegen
die objectiv bindende Gewalt der Naturnothwendigkeit, welche wir in
die ſittliche noch nicht aufgelöst haben. Im abſoluten Subjecte nun ſind
die ſittlichen Sphären in Einheit. An ſich collidirt der Staatszweck nicht

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[281/0295] §. 120. Dieſe Nothwendigkeit als das Geſetz einer ſittlichen Welt breitet ſich in unterſchiedene Kreiſe des ſittlichen Lebens, die abſolute ſittliche Macht in be- ſondere ſittliche Mächte aus (vergl. §. 20); denn ſie kann ſich keinen andern Inhalt geben, als indem ſie die Naturtriebe mit der Freiheit des Geiſtes durchdringt und der natürliche Unterſchied dieſer begründet daher in ihrer Um- bildung ſelbſt den Unterſchied der ſittlichen Mächte oder Ideen. Dieſer Unter- ſchied geſtaltet ſich zum Gegenſatze, der Gegenſatz iſt aber in der abſoluten Idee, welche nunmehr als abſolutes Subject gefaßt iſt, in harmoniſche Einheit aufgehoben. 1. Die Welt der ſittlichen Mächte iſt in §. 20 vorausgeſetzt als etwas, das die Aeſthetik nicht zu begründen hat. Auch hier wäre dies nicht nöthig, wenn nicht dieſe ſittlichen Grundzwecke im Erhabenen mit dem beſonderen Nachdruck einzuführen wären, daß in ihrem Unterſchiede eine Quelle des ſittlichen Conflictes liegt, was in unſerer Entwicklung ſofort hervortreten wird. Im Schönen iſt eine ruhige Einheit des Triebs oder der Neigung mit einem ſittlichen Lebensmotive gegeben; der ſittliche Charakter kann außer dem Kampfe auch als harmoniſches Bild die Wirkung der Anmuth mit der Hohheit verbinden. Im Erhabenen aber hat er zu kämpfen, daher erſcheint der Naturtrieb, auch wo er als Pathos ſich poſitiv zu dem ſittlichen Streben verhält, in der Form eines gewaltſam mit Fortgeriſſenen oder Unterworfenen; iſt er aber auch unter- worfen, ſo treibt er doch als befeuernde Gewalt das an ſich berechtigte Pathos über das Maß, das ihm durch ſeine Einordnung in die Ge- ſammtheit der ſittlichen Zwecke vorgeſchrieben iſt, hinaus. Deswegen wurde hier der Naturtrieb als Baſis der Unterſchiede in der ſittlichen Welt ausdrücklich hervorgehoben. Solche Unterſchiede ſind z. B. Liebe, Familie, Ehre, Staat, im Staat der Unterſchied der Stände, wie er auf der Geburt ruht, der einzelnen Gewalten, wie dieſem ebenfalls geiſtig um- gebildete Naturtriebe, Rache, Herrſchtrieb u. ſ. w. zu Grunde liegen, der Krieg, wie er auf Gegenſatz der Volksabſtammung ruht u. ſ. w. 2. Was vorher abſolute Idee hieß (§. 10. 11), heißt jetzt abſolutes Subject im Sinne der Entgegenſetzung des freien geiſtigen Mittelpunkts gegen die objectiv bindende Gewalt der Naturnothwendigkeit, welche wir in die ſittliche noch nicht aufgelöst haben. Im abſoluten Subjecte nun ſind die ſittlichen Sphären in Einheit. An ſich collidirt der Staatszweck nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/295>, abgerufen am 29.03.2024.