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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Gegenglied abgibt. Dieses, welcher Art es seyn mag, wäre allerdings außerhalb
der Vergleichung immer irgendwie von der Idee bestimmt und durchdrungen und
daher in einer Zusammenstellung mit Solchem, was ebenfalls von der Idee,
nur auf einer noch ungleich niedrigeren Stufe ihrer Wirklichkeit, durchdrungen
ist, vielleicht sogar erhaben; allein wenn es unter gewissen Bedingungen, welche
weiterhin zu entwickeln sind, mit der Idee auf einer solchen Stufe zusammen-
stößt, welche wesentlich eine ungleich höhere Form fordert, so wirkt der Con-
trast zwischen dieser und jenem so stark, daß die Mittelglieder, die an sich
allerdings von der untersten Form der Gegenwart der Idee im Einzelnen bis
zur höchsten führen, verschwinden und die Kluft unendlich erscheint.

Von der Pflanze zum Menschen z. B. führt eine ununterbrochene
Stufenkette durch das Thierreich. Tritt aber auf eine gewisse Weise --
diese ist eben noch zu entwickeln -- eine menschliche Gestalt in ein Licht,
als hätte sich eines ihrer Glieder von dem Ganzen wie ein fortwachsender
Ast, Zweig abgelöst, Pilze angesetzt u. s. w., so ist der Uebergang zu
rasch, ich habe jetzt nicht Zeit, zu erwägen, daß im Menschen wirklich
das Vegetabilische als organisch aufgehobenes Moment fortwirkt, daß
solche Absetzung eines abnormen Bildungstriebs an einzelnen Theilen von
kaum merklichen Anfängen sich allmählich vergrößert hat u. s. w.; das
Auge geht von der gesunden Gestalt der übrigen Glieder zu unmittelbar
zu dem entstellten über: und so ist ein Lapsus da, der unendlich erscheint.

§. 170.

Die Stufenleiter der Erscheinungen, welche durch den Contrast mit einer
von der Idee auf ungleich höherer Stufe gebildeten sich als verlassen von der
Idee darstellen, geht daher von den untersten Formen des Daseyns bis hinauf
zu den Formen des selbstbewußten Lebens, welche, so hoch sie übrigens stehen
mögen, immer noch mit Einzelheit und Zufälligkeit in dem Grade behaftet sind,
daß zwischen sie und die denkbar reinste noch der Schein einer unendlichen Kluft
treten kann. Je erhabener das erste Glied ist, desto höher darf auch das
Gegenglied, abgesehen von dem vorliegenden Contraste, stehen, doch ist hier im
Allgemeinen keine feste Grenze zu ziehen; je weniger hoch das Erhabene ab-
gesehen von dem vorliegenden Contraste steht, desto niedriger muß die Sphäre
seyn, woraus ihm die Störung oder Brechung kommt.

Das thierisch Organische versinkt in das vegetabilisch Organische oder
tiefer auch in das Mechanische, das menschlich Organische kann in alle

Gegenglied abgibt. Dieſes, welcher Art es ſeyn mag, wäre allerdings außerhalb
der Vergleichung immer irgendwie von der Idee beſtimmt und durchdrungen und
daher in einer Zuſammenſtellung mit Solchem, was ebenfalls von der Idee,
nur auf einer noch ungleich niedrigeren Stufe ihrer Wirklichkeit, durchdrungen
iſt, vielleicht ſogar erhaben; allein wenn es unter gewiſſen Bedingungen, welche
weiterhin zu entwickeln ſind, mit der Idee auf einer ſolchen Stufe zuſammen-
ſtößt, welche weſentlich eine ungleich höhere Form fordert, ſo wirkt der Con-
traſt zwiſchen dieſer und jenem ſo ſtark, daß die Mittelglieder, die an ſich
allerdings von der unterſten Form der Gegenwart der Idee im Einzelnen bis
zur höchſten führen, verſchwinden und die Kluft unendlich erſcheint.

Von der Pflanze zum Menſchen z. B. führt eine ununterbrochene
Stufenkette durch das Thierreich. Tritt aber auf eine gewiſſe Weiſe —
dieſe iſt eben noch zu entwickeln — eine menſchliche Geſtalt in ein Licht,
als hätte ſich eines ihrer Glieder von dem Ganzen wie ein fortwachſender
Aſt, Zweig abgelöst, Pilze angeſetzt u. ſ. w., ſo iſt der Uebergang zu
raſch, ich habe jetzt nicht Zeit, zu erwägen, daß im Menſchen wirklich
das Vegetabiliſche als organiſch aufgehobenes Moment fortwirkt, daß
ſolche Abſetzung eines abnormen Bildungstriebs an einzelnen Theilen von
kaum merklichen Anfängen ſich allmählich vergrößert hat u. ſ. w.; das
Auge geht von der geſunden Geſtalt der übrigen Glieder zu unmittelbar
zu dem entſtellten über: und ſo iſt ein Lapſus da, der unendlich erſcheint.

§. 170.

Die Stufenleiter der Erſcheinungen, welche durch den Contraſt mit einer
von der Idee auf ungleich höherer Stufe gebildeten ſich als verlaſſen von der
Idee darſtellen, geht daher von den unterſten Formen des Daſeyns bis hinauf
zu den Formen des ſelbſtbewußten Lebens, welche, ſo hoch ſie übrigens ſtehen
mögen, immer noch mit Einzelheit und Zufälligkeit in dem Grade behaftet ſind,
daß zwiſchen ſie und die denkbar reinſte noch der Schein einer unendlichen Kluft
treten kann. Je erhabener das erſte Glied iſt, deſto höher darf auch das
Gegenglied, abgeſehen von dem vorliegenden Contraſte, ſtehen, doch iſt hier im
Allgemeinen keine feſte Grenze zu ziehen; je weniger hoch das Erhabene ab-
geſehen von dem vorliegenden Contraſte ſteht, deſto niedriger muß die Sphäre
ſeyn, woraus ihm die Störung oder Brechung kommt.

Das thieriſch Organiſche verſinkt in das vegetabiliſch Organiſche oder
tiefer auch in das Mechaniſche, das menſchlich Organiſche kann in alle

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[376/0390] Gegenglied abgibt. Dieſes, welcher Art es ſeyn mag, wäre allerdings außerhalb der Vergleichung immer irgendwie von der Idee beſtimmt und durchdrungen und daher in einer Zuſammenſtellung mit Solchem, was ebenfalls von der Idee, nur auf einer noch ungleich niedrigeren Stufe ihrer Wirklichkeit, durchdrungen iſt, vielleicht ſogar erhaben; allein wenn es unter gewiſſen Bedingungen, welche weiterhin zu entwickeln ſind, mit der Idee auf einer ſolchen Stufe zuſammen- ſtößt, welche weſentlich eine ungleich höhere Form fordert, ſo wirkt der Con- traſt zwiſchen dieſer und jenem ſo ſtark, daß die Mittelglieder, die an ſich allerdings von der unterſten Form der Gegenwart der Idee im Einzelnen bis zur höchſten führen, verſchwinden und die Kluft unendlich erſcheint. Von der Pflanze zum Menſchen z. B. führt eine ununterbrochene Stufenkette durch das Thierreich. Tritt aber auf eine gewiſſe Weiſe — dieſe iſt eben noch zu entwickeln — eine menſchliche Geſtalt in ein Licht, als hätte ſich eines ihrer Glieder von dem Ganzen wie ein fortwachſender Aſt, Zweig abgelöst, Pilze angeſetzt u. ſ. w., ſo iſt der Uebergang zu raſch, ich habe jetzt nicht Zeit, zu erwägen, daß im Menſchen wirklich das Vegetabiliſche als organiſch aufgehobenes Moment fortwirkt, daß ſolche Abſetzung eines abnormen Bildungstriebs an einzelnen Theilen von kaum merklichen Anfängen ſich allmählich vergrößert hat u. ſ. w.; das Auge geht von der geſunden Geſtalt der übrigen Glieder zu unmittelbar zu dem entſtellten über: und ſo iſt ein Lapſus da, der unendlich erſcheint. §. 170. Die Stufenleiter der Erſcheinungen, welche durch den Contraſt mit einer von der Idee auf ungleich höherer Stufe gebildeten ſich als verlaſſen von der Idee darſtellen, geht daher von den unterſten Formen des Daſeyns bis hinauf zu den Formen des ſelbſtbewußten Lebens, welche, ſo hoch ſie übrigens ſtehen mögen, immer noch mit Einzelheit und Zufälligkeit in dem Grade behaftet ſind, daß zwiſchen ſie und die denkbar reinſte noch der Schein einer unendlichen Kluft treten kann. Je erhabener das erſte Glied iſt, deſto höher darf auch das Gegenglied, abgeſehen von dem vorliegenden Contraſte, ſtehen, doch iſt hier im Allgemeinen keine feſte Grenze zu ziehen; je weniger hoch das Erhabene ab- geſehen von dem vorliegenden Contraſte ſteht, deſto niedriger muß die Sphäre ſeyn, woraus ihm die Störung oder Brechung kommt. Das thieriſch Organiſche verſinkt in das vegetabiliſch Organiſche oder tiefer auch in das Mechaniſche, das menſchlich Organiſche kann in alle

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/390>, abgerufen am 28.03.2024.