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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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2. Die Annahme einer vollen Besinnung und die Annahme eines
wirklichen Uebels als Strafe der Verirrung fordern sich wie Inneres
und Aeußeres; denn ist die Besinnung eine volle, so wird ihr auch ein
geringeres Uebel die ethische Bedeutung einer sehr fühlbaren Zurechtweisung
haben, noch besser aber wird es seyn, wenn ein wirklich schweres Uebel
volle Besinnung, ernstes Insichgehen mit sich bringt. Dann ist aber das
Komische aufgehoben; der Schluß ist stoisch, ein Verzicht auf Glück und
Wunsch. Das Komische ist aber epikuräisch, stoisch ist das Erhabene.
Umgekehrt fordert daher das Komische als innere Seite seines Ergebnisses
eine in die eingetretene Besinnung sich fortsetzende Besinnungslosigkeit und
den darin gegebenen Ansatz zu Rückfällen, als äußere ein Gut, zwar nicht
das gesuchte außerordentliche, aber ein mittleres Lebensgut. Die Er-
fahrung macht den Narren nicht nur nicht traurig, sondern wie er nie
klug wird, so bleibt er immer lustig. So hat dem Falstaff kaum das
Zipperlein Gewissensbisse abgenöthigt, als er den Kameraden bittet, ihm
ein Zotenlied zu singen; kaum ist er über seiner Feigheit und seinen
faustdicken Lügen auf das Beschämendste ertappt, so ruft er im Glücke
darüber, daß das erbeutete Geld nun verschmaust werden soll, aus:
"brave Jungen, Goldherzen! He, sollen wir lustig seyn? Sollen wir
eine Komödie extemporiren?" Das komische Subject muß in seiner Ver-
irrung unverbesserlich, in seiner guten Laune bei allem Mißlingen un-
verwüstlich, es muß ihm unter immer neuen Versuchen, zu einem höheren
Glücke zu gelangen, bei dem halben, das es immer erreicht, immer aufs
Neue wohl seyn. Hiedurch ergänzt und begründet sich, wie oben der
Satz von der Schuld, so jetzt der Satz vom Glücke §. 167, 2. Liegt
keine ganze Persönlichkeit, sondern ein Moment einer Persönlichkeit vor,
so setzt der Zuschauer die Brechung fort und dehnt sie, wie auch in
jenem Falle, nicht nur auf das ganze Subject, sondern auf die Menschheit
aus. Auch diese Wahrheit vom Glücke im Komischen hat St. Schütze
zwar nicht abgeleitet, aber ganz richtig gesehen. "Die ewigen, nothwendigen
Gesetze der Natur müssen in den einzelnen Hindernissen, die dem Menschen
entgegentreten, nicht drückend werden, sondern die Schranken, die sie
dem Menschen setzt, müssen wieder als belebte Mittel wirken, die Freiheit
des Menschen wie durch eine Neckerei zu prüfen und anzuregen" (a. a.
O. S. 26). -- "Darf im Komischen die Gegenwirkung der Natur die
Freiheit des Menschen nicht völlig aufheben, so versteht es sich auch von
selbst, daß das Leben und Gedeihen, die Glückseligkeit des Menschen
dadurch nicht als vernichtet erscheinen darf" (S. 32. 33). "Das Be-

2. Die Annahme einer vollen Beſinnung und die Annahme eines
wirklichen Uebels als Strafe der Verirrung fordern ſich wie Inneres
und Aeußeres; denn iſt die Beſinnung eine volle, ſo wird ihr auch ein
geringeres Uebel die ethiſche Bedeutung einer ſehr fühlbaren Zurechtweiſung
haben, noch beſſer aber wird es ſeyn, wenn ein wirklich ſchweres Uebel
volle Beſinnung, ernſtes Inſichgehen mit ſich bringt. Dann iſt aber das
Komiſche aufgehoben; der Schluß iſt ſtoiſch, ein Verzicht auf Glück und
Wunſch. Das Komiſche iſt aber epikuräiſch, ſtoiſch iſt das Erhabene.
Umgekehrt fordert daher das Komiſche als innere Seite ſeines Ergebniſſes
eine in die eingetretene Beſinnung ſich fortſetzende Beſinnungsloſigkeit und
den darin gegebenen Anſatz zu Rückfällen, als äußere ein Gut, zwar nicht
das geſuchte außerordentliche, aber ein mittleres Lebensgut. Die Er-
fahrung macht den Narren nicht nur nicht traurig, ſondern wie er nie
klug wird, ſo bleibt er immer luſtig. So hat dem Falſtaff kaum das
Zipperlein Gewiſſensbiſſe abgenöthigt, als er den Kameraden bittet, ihm
ein Zotenlied zu ſingen; kaum iſt er über ſeiner Feigheit und ſeinen
fauſtdicken Lügen auf das Beſchämendſte ertappt, ſo ruft er im Glücke
darüber, daß das erbeutete Geld nun verſchmaust werden ſoll, aus:
„brave Jungen, Goldherzen! He, ſollen wir luſtig ſeyn? Sollen wir
eine Komödie extemporiren?“ Das komiſche Subject muß in ſeiner Ver-
irrung unverbeſſerlich, in ſeiner guten Laune bei allem Mißlingen un-
verwüſtlich, es muß ihm unter immer neuen Verſuchen, zu einem höheren
Glücke zu gelangen, bei dem halben, das es immer erreicht, immer aufs
Neue wohl ſeyn. Hiedurch ergänzt und begründet ſich, wie oben der
Satz von der Schuld, ſo jetzt der Satz vom Glücke §. 167, 2. Liegt
keine ganze Perſönlichkeit, ſondern ein Moment einer Perſönlichkeit vor,
ſo ſetzt der Zuſchauer die Brechung fort und dehnt ſie, wie auch in
jenem Falle, nicht nur auf das ganze Subject, ſondern auf die Menſchheit
aus. Auch dieſe Wahrheit vom Glücke im Komiſchen hat St. Schütze
zwar nicht abgeleitet, aber ganz richtig geſehen. „Die ewigen, nothwendigen
Geſetze der Natur müſſen in den einzelnen Hinderniſſen, die dem Menſchen
entgegentreten, nicht drückend werden, ſondern die Schranken, die ſie
dem Menſchen ſetzt, müſſen wieder als belebte Mittel wirken, die Freiheit
des Menſchen wie durch eine Neckerei zu prüfen und anzuregen“ (a. a.
O. S. 26). — „Darf im Komiſchen die Gegenwirkung der Natur die
Freiheit des Menſchen nicht völlig aufheben, ſo verſteht es ſich auch von
ſelbſt, daß das Leben und Gedeihen, die Glückſeligkeit des Menſchen
dadurch nicht als vernichtet erſcheinen darf“ (S. 32. 33). „Das Be-

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[394/0408] 2. Die Annahme einer vollen Beſinnung und die Annahme eines wirklichen Uebels als Strafe der Verirrung fordern ſich wie Inneres und Aeußeres; denn iſt die Beſinnung eine volle, ſo wird ihr auch ein geringeres Uebel die ethiſche Bedeutung einer ſehr fühlbaren Zurechtweiſung haben, noch beſſer aber wird es ſeyn, wenn ein wirklich ſchweres Uebel volle Beſinnung, ernſtes Inſichgehen mit ſich bringt. Dann iſt aber das Komiſche aufgehoben; der Schluß iſt ſtoiſch, ein Verzicht auf Glück und Wunſch. Das Komiſche iſt aber epikuräiſch, ſtoiſch iſt das Erhabene. Umgekehrt fordert daher das Komiſche als innere Seite ſeines Ergebniſſes eine in die eingetretene Beſinnung ſich fortſetzende Beſinnungsloſigkeit und den darin gegebenen Anſatz zu Rückfällen, als äußere ein Gut, zwar nicht das geſuchte außerordentliche, aber ein mittleres Lebensgut. Die Er- fahrung macht den Narren nicht nur nicht traurig, ſondern wie er nie klug wird, ſo bleibt er immer luſtig. So hat dem Falſtaff kaum das Zipperlein Gewiſſensbiſſe abgenöthigt, als er den Kameraden bittet, ihm ein Zotenlied zu ſingen; kaum iſt er über ſeiner Feigheit und ſeinen fauſtdicken Lügen auf das Beſchämendſte ertappt, ſo ruft er im Glücke darüber, daß das erbeutete Geld nun verſchmaust werden ſoll, aus: „brave Jungen, Goldherzen! He, ſollen wir luſtig ſeyn? Sollen wir eine Komödie extemporiren?“ Das komiſche Subject muß in ſeiner Ver- irrung unverbeſſerlich, in ſeiner guten Laune bei allem Mißlingen un- verwüſtlich, es muß ihm unter immer neuen Verſuchen, zu einem höheren Glücke zu gelangen, bei dem halben, das es immer erreicht, immer aufs Neue wohl ſeyn. Hiedurch ergänzt und begründet ſich, wie oben der Satz von der Schuld, ſo jetzt der Satz vom Glücke §. 167, 2. Liegt keine ganze Perſönlichkeit, ſondern ein Moment einer Perſönlichkeit vor, ſo ſetzt der Zuſchauer die Brechung fort und dehnt ſie, wie auch in jenem Falle, nicht nur auf das ganze Subject, ſondern auf die Menſchheit aus. Auch dieſe Wahrheit vom Glücke im Komiſchen hat St. Schütze zwar nicht abgeleitet, aber ganz richtig geſehen. „Die ewigen, nothwendigen Geſetze der Natur müſſen in den einzelnen Hinderniſſen, die dem Menſchen entgegentreten, nicht drückend werden, ſondern die Schranken, die ſie dem Menſchen ſetzt, müſſen wieder als belebte Mittel wirken, die Freiheit des Menſchen wie durch eine Neckerei zu prüfen und anzuregen“ (a. a. O. S. 26). — „Darf im Komiſchen die Gegenwirkung der Natur die Freiheit des Menſchen nicht völlig aufheben, ſo verſteht es ſich auch von ſelbſt, daß das Leben und Gedeihen, die Glückſeligkeit des Menſchen dadurch nicht als vernichtet erſcheinen darf“ (S. 32. 33). „Das Be-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/408>, abgerufen am 28.03.2024.