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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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bedient sich daher wesentlich der Sprache und sofern sie sinnliche Bilder gebraucht,
sind diese blose Zeichen. Mit diesem Mittel thätig stellt sie sich über ihren2
Gegenstand, spricht ihn aus, holt aber aus der unendlichen Welt des Vorstell-
baren durch einen Sprung, welcher Sache des unmittelbaren, ahnenden Ergrei-
fens ist und diesem Reflections-Acte den ästhetischen Charakter gibt, eine Vor-
stellung aus einem ganz entlegenen Kreise herbei und wirft sie mit der des
vorliegenden Gegenstandes plötzlich in Einen Gedankenzusammenhang. Das
Weglassen aller Mittelglieder (vergl. §. 169), das nothwendig die größte Kürze
des Ausdrucks fordert, spannt den Widerspruch auf seine Spitze. Auf derselben
Spitze aber springt ein Punkt hervor, durch welche die entlegene Vorstellung
mit der vorliegenden in eine scheinbare Einheit sich zusammenfaßt, und so entsteht
"der ästhetische Lichtschein eines neuen Verhältnisses, indeß unser Wahrheits-
gefühl das alte fortbehauptet und durch diesen Zwiespalt zwischen doppeltem
Scheine jenen süßen Kitzel des erregten Verstandes unterhält, der im Komischen
bis zur Empfindung steigt" (J. P. Fr. Richter). Dies Verfahren heißt Witz.3

1. Der §. sagt: ein innerlich Vorgestelltes und Gedachtes, nachher
wird das einemal Vorstellung, das andremal Gedankenzusammenhang ge-
nannt. Es ist nicht anders möglich, als so im Unbestimmten zu bleiben,
wenn dieser Punkt nicht eine unverhältnißmäßig breite Erörterung her-
beiführen soll. Das Wahre ist, daß der Witz zwischen Vorstellung
und Begriff auf schmaler Linie hinspielt. Er erhebt seinen Gegenstand
in die Sphäre der Allgemeinheit oder des Gedachten, läßt aber mehr
oder weniger Spielraum, sich ihn innerlich vorzustellen. Er kann bei
einem einzelnem vorliegenden, sinnlichen Falle stehen bleiben, wie Liskow
in einem nachher anzuführenden Epigramm; dieser Fall ist nicht gegen-
wärtig, wird aber als sinnlicher Vorgang innerlich vorgestellt. Er kann
einen allgemeinen Satz daraus abstrahiren, die Pointe auf ein allgemeines
Verhältniß hinüberziehen, wie wenn J. Paul sagt: so sehr sieget blose
Stellung, es sey der Krieger oder der Sätze. Stellung der Sätze ist
hier das Subject, das durch Einschiebung der Krieger komisch gebrochen
wird. Dies ist etwas ganz Allgemeines, doch stellt man sich auch hier
noch einen Gelehrten sitzend und seinen Styl ordnend vor. Ganz allge-
mein ist der Satz Petions in der Nationalversammlung: la theologie
est a la religion ce que la chicane est a la justice;
vom vorliegenden
Streit mit der Kirche sind reine allgemeine Begriffe abgezogen. Hier
bringt aber die witzige Vergleichung die Aufforderung zur Vorstellung

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bedient ſich daher weſentlich der Sprache und ſofern ſie ſinnliche Bilder gebraucht,
ſind dieſe bloſe Zeichen. Mit dieſem Mittel thätig ſtellt ſie ſich über ihren2
Gegenſtand, ſpricht ihn aus, holt aber aus der unendlichen Welt des Vorſtell-
baren durch einen Sprung, welcher Sache des unmittelbaren, ahnenden Ergrei-
fens iſt und dieſem Reflections-Acte den äſthetiſchen Charakter gibt, eine Vor-
ſtellung aus einem ganz entlegenen Kreiſe herbei und wirft ſie mit der des
vorliegenden Gegenſtandes plötzlich in Einen Gedankenzuſammenhang. Das
Weglaſſen aller Mittelglieder (vergl. §. 169), das nothwendig die größte Kürze
des Ausdrucks fordert, ſpannt den Widerſpruch auf ſeine Spitze. Auf derſelben
Spitze aber ſpringt ein Punkt hervor, durch welche die entlegene Vorſtellung
mit der vorliegenden in eine ſcheinbare Einheit ſich zuſammenfaßt, und ſo entſteht
„der äſthetiſche Lichtſchein eines neuen Verhältniſſes, indeß unſer Wahrheits-
gefühl das alte fortbehauptet und durch dieſen Zwieſpalt zwiſchen doppeltem
Scheine jenen ſüßen Kitzel des erregten Verſtandes unterhält, der im Komiſchen
bis zur Empfindung ſteigt“ (J. P. Fr. Richter). Dies Verfahren heißt Witz.3

1. Der §. ſagt: ein innerlich Vorgeſtelltes und Gedachtes, nachher
wird das einemal Vorſtellung, das andremal Gedankenzuſammenhang ge-
nannt. Es iſt nicht anders möglich, als ſo im Unbeſtimmten zu bleiben,
wenn dieſer Punkt nicht eine unverhältnißmäßig breite Erörterung her-
beiführen ſoll. Das Wahre iſt, daß der Witz zwiſchen Vorſtellung
und Begriff auf ſchmaler Linie hinſpielt. Er erhebt ſeinen Gegenſtand
in die Sphäre der Allgemeinheit oder des Gedachten, läßt aber mehr
oder weniger Spielraum, ſich ihn innerlich vorzuſtellen. Er kann bei
einem einzelnem vorliegenden, ſinnlichen Falle ſtehen bleiben, wie Liskow
in einem nachher anzuführenden Epigramm; dieſer Fall iſt nicht gegen-
wärtig, wird aber als ſinnlicher Vorgang innerlich vorgeſtellt. Er kann
einen allgemeinen Satz daraus abſtrahiren, die Pointe auf ein allgemeines
Verhältniß hinüberziehen, wie wenn J. Paul ſagt: ſo ſehr ſieget bloſe
Stellung, es ſey der Krieger oder der Sätze. Stellung der Sätze iſt
hier das Subject, das durch Einſchiebung der Krieger komiſch gebrochen
wird. Dies iſt etwas ganz Allgemeines, doch ſtellt man ſich auch hier
noch einen Gelehrten ſitzend und ſeinen Styl ordnend vor. Ganz allge-
mein iſt der Satz Petions in der Nationalverſammlung: la théologie
est à la religion ce que la chicane est à la justice;
vom vorliegenden
Streit mit der Kirche ſind reine allgemeine Begriffe abgezogen. Hier
bringt aber die witzige Vergleichung die Aufforderung zur Vorſtellung

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[419/0433] bedient ſich daher weſentlich der Sprache und ſofern ſie ſinnliche Bilder gebraucht, ſind dieſe bloſe Zeichen. Mit dieſem Mittel thätig ſtellt ſie ſich über ihren Gegenſtand, ſpricht ihn aus, holt aber aus der unendlichen Welt des Vorſtell- baren durch einen Sprung, welcher Sache des unmittelbaren, ahnenden Ergrei- fens iſt und dieſem Reflections-Acte den äſthetiſchen Charakter gibt, eine Vor- ſtellung aus einem ganz entlegenen Kreiſe herbei und wirft ſie mit der des vorliegenden Gegenſtandes plötzlich in Einen Gedankenzuſammenhang. Das Weglaſſen aller Mittelglieder (vergl. §. 169), das nothwendig die größte Kürze des Ausdrucks fordert, ſpannt den Widerſpruch auf ſeine Spitze. Auf derſelben Spitze aber ſpringt ein Punkt hervor, durch welche die entlegene Vorſtellung mit der vorliegenden in eine ſcheinbare Einheit ſich zuſammenfaßt, und ſo entſteht „der äſthetiſche Lichtſchein eines neuen Verhältniſſes, indeß unſer Wahrheits- gefühl das alte fortbehauptet und durch dieſen Zwieſpalt zwiſchen doppeltem Scheine jenen ſüßen Kitzel des erregten Verſtandes unterhält, der im Komiſchen bis zur Empfindung ſteigt“ (J. P. Fr. Richter). Dies Verfahren heißt Witz. 1. Der §. ſagt: ein innerlich Vorgeſtelltes und Gedachtes, nachher wird das einemal Vorſtellung, das andremal Gedankenzuſammenhang ge- nannt. Es iſt nicht anders möglich, als ſo im Unbeſtimmten zu bleiben, wenn dieſer Punkt nicht eine unverhältnißmäßig breite Erörterung her- beiführen ſoll. Das Wahre iſt, daß der Witz zwiſchen Vorſtellung und Begriff auf ſchmaler Linie hinſpielt. Er erhebt ſeinen Gegenſtand in die Sphäre der Allgemeinheit oder des Gedachten, läßt aber mehr oder weniger Spielraum, ſich ihn innerlich vorzuſtellen. Er kann bei einem einzelnem vorliegenden, ſinnlichen Falle ſtehen bleiben, wie Liskow in einem nachher anzuführenden Epigramm; dieſer Fall iſt nicht gegen- wärtig, wird aber als ſinnlicher Vorgang innerlich vorgeſtellt. Er kann einen allgemeinen Satz daraus abſtrahiren, die Pointe auf ein allgemeines Verhältniß hinüberziehen, wie wenn J. Paul ſagt: ſo ſehr ſieget bloſe Stellung, es ſey der Krieger oder der Sätze. Stellung der Sätze iſt hier das Subject, das durch Einſchiebung der Krieger komiſch gebrochen wird. Dies iſt etwas ganz Allgemeines, doch ſtellt man ſich auch hier noch einen Gelehrten ſitzend und ſeinen Styl ordnend vor. Ganz allge- mein iſt der Satz Petions in der Nationalverſammlung: la théologie est à la religion ce que la chicane est à la justice; vom vorliegenden Streit mit der Kirche ſind reine allgemeine Begriffe abgezogen. Hier bringt aber die witzige Vergleichung die Aufforderung zur Vorſtellung 27*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/433>, abgerufen am 20.04.2024.