Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite
b.
Der gebrochene Humor.
§. 218.

Die ganze erste Stufe des Humors verfällt, weil sie den Prozeß seiner
Bewegung zwar vollzieht, aber nicht mit vollem Bewußtseyn, einem freieren
Bewußtseyn als Object und auch die zuletzt dargestellte Form, obwohl bereits
mehr innerlich, hat doch mit sich selbst zu viel zu thun, um sich diesem
Schicksal zu entziehen. Soll also die reine persönliche Einheit entstehen,
worin der ganze komische Stoff in völlig übergreifender Reflexion sich selbst von
sich befreit, so wird zuerst erfordert, daß der reale Prozeß weniger grob und
belästigend sey. Die zarter organisirte und innerlicher gebildete Persönlichkeit
wird von einer Unfreiheit edlerer Art überrascht und sucht sich durch Selbst-
belachung und Necken der fremden Schwäche von dem Drucke derselben zu
befreien. Diese Befreiung ist aber selbst noch mehr ein Werk der Selbsthilfe
natürlicher Gesundheit, als denkenden Bewußtseyns; sie bildet sich daher noch
nicht zur Allgemeinheit des komischen Bewußtseyns durch und sie leidet im
Falle tiefer Verwicklung zu sehr selbst, um sich völlig zu befreien.

Das Komische muß sich so lange zu höheren Stufen forttreiben, als
noch eine Schwere des Stoffs in ihm ist, welche nicht ganz in das
durch Reflexion auf sich sich befreiende Bewußtseyn aufgeht. Die ursprünglich
gute, aber in Rohheit haltungslos ausgeartete Natur hat viel zu viel
damit zu thun, sich die Last ihrer derben Häßlichkeit durch Selbst- und
Weltbelachung vom Halse zu schaffen, als daß sie nicht noch Object und
Stoff für ein freieres und allgemeineres komisches Bewußtseyn werden
sollte. Wenn z. B. der geschlechtlich Ausschweifende über die Uebel, die
ihm aus seinem Laster erwachsen, sich durch immer neuen Witz weghilft,
wie Falstaff, so ist dies nicht die freie Komik, wie in dem, der zwar
die Schwäche des Fleisches kennt, aber nicht den ganzen Witz darüber
zur Selbstfreisprechung nöthig hat, sondern das Uebel in seiner Allge-
meinheit als Schranke und Kehrseite der wahren Liebe frei erfassen kann.
Zunächst also muß das Selbsterlebte weniger schwer und grob seyn; wir
brauchen eine zartere, reinere, zum Voraus tiefer in ihr eigenes Innere
blickende Natur und dürfen dies ohne Anstand aus den sonst bekannten

β.
Der gebrochene Humor.
§. 218.

Die ganze erſte Stufe des Humors verfällt, weil ſie den Prozeß ſeiner
Bewegung zwar vollzieht, aber nicht mit vollem Bewußtſeyn, einem freieren
Bewußtſeyn als Object und auch die zuletzt dargeſtellte Form, obwohl bereits
mehr innerlich, hat doch mit ſich ſelbſt zu viel zu thun, um ſich dieſem
Schickſal zu entziehen. Soll alſo die reine perſönliche Einheit entſtehen,
worin der ganze komiſche Stoff in völlig übergreifender Reflexion ſich ſelbſt von
ſich befreit, ſo wird zuerſt erfordert, daß der reale Prozeß weniger grob und
beläſtigend ſey. Die zarter organiſirte und innerlicher gebildete Perſönlichkeit
wird von einer Unfreiheit edlerer Art überraſcht und ſucht ſich durch Selbſt-
belachung und Necken der fremden Schwäche von dem Drucke derſelben zu
befreien. Dieſe Befreiung iſt aber ſelbſt noch mehr ein Werk der Selbſthilfe
natürlicher Geſundheit, als denkenden Bewußtſeyns; ſie bildet ſich daher noch
nicht zur Allgemeinheit des komiſchen Bewußtſeyns durch und ſie leidet im
Falle tiefer Verwicklung zu ſehr ſelbſt, um ſich völlig zu befreien.

Das Komiſche muß ſich ſo lange zu höheren Stufen forttreiben, als
noch eine Schwere des Stoffs in ihm iſt, welche nicht ganz in das
durch Reflexion auf ſich ſich befreiende Bewußtſeyn aufgeht. Die urſprünglich
gute, aber in Rohheit haltungslos ausgeartete Natur hat viel zu viel
damit zu thun, ſich die Laſt ihrer derben Häßlichkeit durch Selbſt- und
Weltbelachung vom Halſe zu ſchaffen, als daß ſie nicht noch Object und
Stoff für ein freieres und allgemeineres komiſches Bewußtſeyn werden
ſollte. Wenn z. B. der geſchlechtlich Ausſchweifende über die Uebel, die
ihm aus ſeinem Laſter erwachſen, ſich durch immer neuen Witz weghilft,
wie Falſtaff, ſo iſt dies nicht die freie Komik, wie in dem, der zwar
die Schwäche des Fleiſches kennt, aber nicht den ganzen Witz darüber
zur Selbſtfreiſprechung nöthig hat, ſondern das Uebel in ſeiner Allge-
meinheit als Schranke und Kehrſeite der wahren Liebe frei erfaſſen kann.
Zunächſt alſo muß das Selbſterlebte weniger ſchwer und grob ſeyn; wir
brauchen eine zartere, reinere, zum Voraus tiefer in ihr eigenes Innere
blickende Natur und dürfen dies ohne Anſtand aus den ſonſt bekannten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0477" n="463"/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#i">&#x03B2;</hi>.<lb/>
Der gebrochene Humor.</head><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 218.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Die ganze er&#x017F;te Stufe des Humors verfällt, weil &#x017F;ie den Prozeß &#x017F;einer<lb/>
Bewegung zwar vollzieht, aber nicht mit vollem Bewußt&#x017F;eyn, einem freieren<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn als Object und auch die zuletzt darge&#x017F;tellte Form, obwohl bereits<lb/>
mehr innerlich, hat doch mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu viel zu thun, um &#x017F;ich die&#x017F;em<lb/>
Schick&#x017F;al zu entziehen. Soll al&#x017F;o die reine per&#x017F;önliche Einheit ent&#x017F;tehen,<lb/>
worin der ganze komi&#x017F;che Stoff in völlig übergreifender Reflexion &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t von<lb/>
&#x017F;ich befreit, &#x017F;o wird zuer&#x017F;t erfordert, daß der reale Prozeß weniger grob und<lb/>
belä&#x017F;tigend &#x017F;ey. Die zarter organi&#x017F;irte und innerlicher gebildete Per&#x017F;önlichkeit<lb/>
wird von einer Unfreiheit edlerer Art überra&#x017F;cht und &#x017F;ucht &#x017F;ich durch Selb&#x017F;t-<lb/>
belachung und Necken der fremden Schwäche von dem Drucke der&#x017F;elben zu<lb/>
befreien. Die&#x017F;e Befreiung i&#x017F;t aber &#x017F;elb&#x017F;t noch mehr ein Werk der Selb&#x017F;thilfe<lb/>
natürlicher Ge&#x017F;undheit, als denkenden Bewußt&#x017F;eyns; &#x017F;ie bildet &#x017F;ich daher noch<lb/>
nicht zur Allgemeinheit des komi&#x017F;chen Bewußt&#x017F;eyns durch und &#x017F;ie leidet im<lb/>
Falle tiefer Verwicklung zu &#x017F;ehr &#x017F;elb&#x017F;t, um &#x017F;ich völlig zu befreien.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Das Komi&#x017F;che muß &#x017F;ich &#x017F;o lange zu höheren Stufen forttreiben, als<lb/>
noch eine Schwere des Stoffs in ihm i&#x017F;t, welche nicht ganz in das<lb/>
durch Reflexion auf &#x017F;ich &#x017F;ich befreiende Bewußt&#x017F;eyn aufgeht. Die ur&#x017F;prünglich<lb/>
gute, aber in Rohheit haltungslos ausgeartete Natur hat viel zu viel<lb/>
damit zu thun, &#x017F;ich die La&#x017F;t ihrer derben Häßlichkeit durch Selb&#x017F;t- und<lb/>
Weltbelachung vom Hal&#x017F;e zu &#x017F;chaffen, als daß &#x017F;ie nicht noch Object und<lb/>
Stoff für ein freieres und allgemeineres komi&#x017F;ches Bewußt&#x017F;eyn werden<lb/>
&#x017F;ollte. Wenn z. B. der ge&#x017F;chlechtlich Aus&#x017F;chweifende über die Uebel, die<lb/>
ihm aus &#x017F;einem La&#x017F;ter erwach&#x017F;en, &#x017F;ich durch immer neuen Witz weghilft,<lb/>
wie Fal&#x017F;taff, &#x017F;o i&#x017F;t dies nicht die freie Komik, wie in dem, der zwar<lb/>
die Schwäche des Flei&#x017F;ches kennt, aber nicht den ganzen Witz darüber<lb/>
zur Selb&#x017F;tfrei&#x017F;prechung nöthig hat, &#x017F;ondern das Uebel in &#x017F;einer Allge-<lb/>
meinheit als Schranke und Kehr&#x017F;eite der wahren Liebe frei erfa&#x017F;&#x017F;en kann.<lb/>
Zunäch&#x017F;t al&#x017F;o muß das Selb&#x017F;terlebte weniger &#x017F;chwer und grob &#x017F;eyn; wir<lb/>
brauchen eine zartere, reinere, zum Voraus tiefer in ihr eigenes Innere<lb/>
blickende Natur und dürfen dies ohne An&#x017F;tand aus den &#x017F;on&#x017F;t bekannten<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[463/0477] β. Der gebrochene Humor. §. 218. Die ganze erſte Stufe des Humors verfällt, weil ſie den Prozeß ſeiner Bewegung zwar vollzieht, aber nicht mit vollem Bewußtſeyn, einem freieren Bewußtſeyn als Object und auch die zuletzt dargeſtellte Form, obwohl bereits mehr innerlich, hat doch mit ſich ſelbſt zu viel zu thun, um ſich dieſem Schickſal zu entziehen. Soll alſo die reine perſönliche Einheit entſtehen, worin der ganze komiſche Stoff in völlig übergreifender Reflexion ſich ſelbſt von ſich befreit, ſo wird zuerſt erfordert, daß der reale Prozeß weniger grob und beläſtigend ſey. Die zarter organiſirte und innerlicher gebildete Perſönlichkeit wird von einer Unfreiheit edlerer Art überraſcht und ſucht ſich durch Selbſt- belachung und Necken der fremden Schwäche von dem Drucke derſelben zu befreien. Dieſe Befreiung iſt aber ſelbſt noch mehr ein Werk der Selbſthilfe natürlicher Geſundheit, als denkenden Bewußtſeyns; ſie bildet ſich daher noch nicht zur Allgemeinheit des komiſchen Bewußtſeyns durch und ſie leidet im Falle tiefer Verwicklung zu ſehr ſelbſt, um ſich völlig zu befreien. Das Komiſche muß ſich ſo lange zu höheren Stufen forttreiben, als noch eine Schwere des Stoffs in ihm iſt, welche nicht ganz in das durch Reflexion auf ſich ſich befreiende Bewußtſeyn aufgeht. Die urſprünglich gute, aber in Rohheit haltungslos ausgeartete Natur hat viel zu viel damit zu thun, ſich die Laſt ihrer derben Häßlichkeit durch Selbſt- und Weltbelachung vom Halſe zu ſchaffen, als daß ſie nicht noch Object und Stoff für ein freieres und allgemeineres komiſches Bewußtſeyn werden ſollte. Wenn z. B. der geſchlechtlich Ausſchweifende über die Uebel, die ihm aus ſeinem Laſter erwachſen, ſich durch immer neuen Witz weghilft, wie Falſtaff, ſo iſt dies nicht die freie Komik, wie in dem, der zwar die Schwäche des Fleiſches kennt, aber nicht den ganzen Witz darüber zur Selbſtfreiſprechung nöthig hat, ſondern das Uebel in ſeiner Allge- meinheit als Schranke und Kehrſeite der wahren Liebe frei erfaſſen kann. Zunächſt alſo muß das Selbſterlebte weniger ſchwer und grob ſeyn; wir brauchen eine zartere, reinere, zum Voraus tiefer in ihr eigenes Innere blickende Natur und dürfen dies ohne Anſtand aus den ſonſt bekannten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/477
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/477>, abgerufen am 18.04.2024.