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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Richtigkeit bestreiten. Es ist klar, wie viel gewonnen würde, wenn sich
in derselben Weise die Geschichte der Aesthetik in die Aesthetik aufnehmen
ließe. Allein es versteht sich, daß, was von der Metaphysik gilt, nicht
ebenso von den besondern Disziplinen ausgesagt werden kann. Es kann
z. B. eine Philosophie ein verhältnißmäßig schon reiches und erfülltes
metaphysisches Prinzip aufgestellt haben, und da die Aesthetik eine der
richtigsten Proben einer Metaphysik ist, so sollte man erwarten, daß ein
ebenso concretes ästhetisches Prinzip sich hier finden lasse, das sich von
selbst im System da einreihe, wo zuerst die Grundidee in ihrer weitesten
Allgemeinheit vorangestellt wird, dann die abstracteren Momente
ihrer Entwicklung sich in ihre Gesammteinheit zusammenfassen. Allein die
Zeit, worin jene Metaphysik entstand, kann so wenig Interesse für das
Aesthetische gehabt haben, daß diese ihre Folgerungen nach dieser Seite
nicht zog, sondern nichts oder nur arme Bestimmungen hierüber vorzu-
bringen wußte. Aus Spinoza's Prinzip, aus der Leibniz'schen
Monadologie öffnen sich große Aussichten in das Schöne, allein das
Interesse lag ferne. Von Kant's und Fichte's Subjectivismus ließen
sich tiefe Gedanken über das Komische erwarten, allein Kant gibt so
gut als Nichts, Fichte gar nichts. Umgekehrt finden sich bei Aristoteles,
der über das allgemeine Wesen des Schönen nur gelegentliche Winke
gibt, treffliche Gedanken über das Wesen des Komischen und Tragischen,
die doch zu den erfülltesten in der Metaphysik des Schönen gehören; denn
Aristoteles hatte eine große reale Kunstwelt vor sich, deren concrete
Betrachtung ungesucht die gediegensten speculativen Ideen darbot; und so
treten auch jene Gedanken freilich nur bei Gelegenheit der Untersuchung
bestimmter Kunstgattungen hervor. Es ist hier jedoch nicht die Rede von
der Ungleichheit der geschichtlich vorhandenen ästhetischen Untersuchungen
mit sich selbst in Betreff ihrer Leistungen in der realen Kunstsphäre ver-
glichen mit denen in der Metaphysik des Schönen; denn wie Hegel ein
Entsprechen der geschichtlichen Prinzipien und der Stufen des Begriffs
nur in Beziehung auf die Logik behauptet, so kann auch hier die Frage
nur die seyn, ob sich ein solches Entsprechen in Beziehung auf den ersten
Theil
der Aesthetik, den allgemeinen Begriff des Schönen nämlich und
seine Stufen, finden lasse. Praktische Bemerkungen über die Kunst fehlen
da am wenigsten, wo die allgemeinen Prinzipien noch am dürftigsten
sind: bei den Alten. Um die letzteren aufzusuchen bedurfte es erst der
Anerkennung der Selbstständigkeit des Schönen, und dies konnte im
Alterthum, wo die Kunst mit dem ganzen Leben so untheilbar verflochten

Richtigkeit beſtreiten. Es iſt klar, wie viel gewonnen würde, wenn ſich
in derſelben Weiſe die Geſchichte der Aeſthetik in die Aeſthetik aufnehmen
ließe. Allein es verſteht ſich, daß, was von der Metaphyſik gilt, nicht
ebenſo von den beſondern Disziplinen ausgeſagt werden kann. Es kann
z. B. eine Philoſophie ein verhältnißmäßig ſchon reiches und erfülltes
metaphyſiſches Prinzip aufgeſtellt haben, und da die Aeſthetik eine der
richtigſten Proben einer Metaphyſik iſt, ſo ſollte man erwarten, daß ein
ebenſo concretes äſthetiſches Prinzip ſich hier finden laſſe, das ſich von
ſelbſt im Syſtem da einreihe, wo zuerſt die Grundidee in ihrer weiteſten
Allgemeinheit vorangeſtellt wird, dann die abſtracteren Momente
ihrer Entwicklung ſich in ihre Geſammteinheit zuſammenfaſſen. Allein die
Zeit, worin jene Metaphyſik entſtand, kann ſo wenig Intereſſe für das
Aeſthetiſche gehabt haben, daß dieſe ihre Folgerungen nach dieſer Seite
nicht zog, ſondern nichts oder nur arme Beſtimmungen hierüber vorzu-
bringen wußte. Aus Spinoza’s Prinzip, aus der Leibniz’ſchen
Monadologie öffnen ſich große Ausſichten in das Schöne, allein das
Intereſſe lag ferne. Von Kant’s und Fichte’s Subjectivismus ließen
ſich tiefe Gedanken über das Komiſche erwarten, allein Kant gibt ſo
gut als Nichts, Fichte gar nichts. Umgekehrt finden ſich bei Ariſtoteles,
der über das allgemeine Weſen des Schönen nur gelegentliche Winke
gibt, treffliche Gedanken über das Weſen des Komiſchen und Tragiſchen,
die doch zu den erfüllteſten in der Metaphyſik des Schönen gehören; denn
Ariſtoteles hatte eine große reale Kunſtwelt vor ſich, deren concrete
Betrachtung ungeſucht die gediegenſten ſpeculativen Ideen darbot; und ſo
treten auch jene Gedanken freilich nur bei Gelegenheit der Unterſuchung
beſtimmter Kunſtgattungen hervor. Es iſt hier jedoch nicht die Rede von
der Ungleichheit der geſchichtlich vorhandenen äſthetiſchen Unterſuchungen
mit ſich ſelbſt in Betreff ihrer Leiſtungen in der realen Kunſtſphäre ver-
glichen mit denen in der Metaphyſik des Schönen; denn wie Hegel ein
Entſprechen der geſchichtlichen Prinzipien und der Stufen des Begriffs
nur in Beziehung auf die Logik behauptet, ſo kann auch hier die Frage
nur die ſeyn, ob ſich ein ſolches Entſprechen in Beziehung auf den erſten
Theil
der Aeſthetik, den allgemeinen Begriff des Schönen nämlich und
ſeine Stufen, finden laſſe. Praktiſche Bemerkungen über die Kunſt fehlen
da am wenigſten, wo die allgemeinen Prinzipien noch am dürftigſten
ſind: bei den Alten. Um die letzteren aufzuſuchen bedurfte es erſt der
Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des Schönen, und dies konnte im
Alterthum, wo die Kunſt mit dem ganzen Leben ſo untheilbar verflochten

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[38/0052] Richtigkeit beſtreiten. Es iſt klar, wie viel gewonnen würde, wenn ſich in derſelben Weiſe die Geſchichte der Aeſthetik in die Aeſthetik aufnehmen ließe. Allein es verſteht ſich, daß, was von der Metaphyſik gilt, nicht ebenſo von den beſondern Disziplinen ausgeſagt werden kann. Es kann z. B. eine Philoſophie ein verhältnißmäßig ſchon reiches und erfülltes metaphyſiſches Prinzip aufgeſtellt haben, und da die Aeſthetik eine der richtigſten Proben einer Metaphyſik iſt, ſo ſollte man erwarten, daß ein ebenſo concretes äſthetiſches Prinzip ſich hier finden laſſe, das ſich von ſelbſt im Syſtem da einreihe, wo zuerſt die Grundidee in ihrer weiteſten Allgemeinheit vorangeſtellt wird, dann die abſtracteren Momente ihrer Entwicklung ſich in ihre Geſammteinheit zuſammenfaſſen. Allein die Zeit, worin jene Metaphyſik entſtand, kann ſo wenig Intereſſe für das Aeſthetiſche gehabt haben, daß dieſe ihre Folgerungen nach dieſer Seite nicht zog, ſondern nichts oder nur arme Beſtimmungen hierüber vorzu- bringen wußte. Aus Spinoza’s Prinzip, aus der Leibniz’ſchen Monadologie öffnen ſich große Ausſichten in das Schöne, allein das Intereſſe lag ferne. Von Kant’s und Fichte’s Subjectivismus ließen ſich tiefe Gedanken über das Komiſche erwarten, allein Kant gibt ſo gut als Nichts, Fichte gar nichts. Umgekehrt finden ſich bei Ariſtoteles, der über das allgemeine Weſen des Schönen nur gelegentliche Winke gibt, treffliche Gedanken über das Weſen des Komiſchen und Tragiſchen, die doch zu den erfüllteſten in der Metaphyſik des Schönen gehören; denn Ariſtoteles hatte eine große reale Kunſtwelt vor ſich, deren concrete Betrachtung ungeſucht die gediegenſten ſpeculativen Ideen darbot; und ſo treten auch jene Gedanken freilich nur bei Gelegenheit der Unterſuchung beſtimmter Kunſtgattungen hervor. Es iſt hier jedoch nicht die Rede von der Ungleichheit der geſchichtlich vorhandenen äſthetiſchen Unterſuchungen mit ſich ſelbſt in Betreff ihrer Leiſtungen in der realen Kunſtſphäre ver- glichen mit denen in der Metaphyſik des Schönen; denn wie Hegel ein Entſprechen der geſchichtlichen Prinzipien und der Stufen des Begriffs nur in Beziehung auf die Logik behauptet, ſo kann auch hier die Frage nur die ſeyn, ob ſich ein ſolches Entſprechen in Beziehung auf den erſten Theil der Aeſthetik, den allgemeinen Begriff des Schönen nämlich und ſeine Stufen, finden laſſe. Praktiſche Bemerkungen über die Kunſt fehlen da am wenigſten, wo die allgemeinen Prinzipien noch am dürftigſten ſind: bei den Alten. Um die letzteren aufzuſuchen bedurfte es erſt der Anerkennung der Selbſtſtändigkeit des Schönen, und dies konnte im Alterthum, wo die Kunſt mit dem ganzen Leben ſo untheilbar verflochten

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/52>, abgerufen am 29.03.2024.