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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Engeln, Heiligen u. s. w. auseinander zu legen, denn die Gestalt ist zu
begrenzt und bestimmt, um ohne die Mitte der Besonderheit das All-
gemeinste in sich darzustellen. Dennoch hat Hegel, indem er zwar
sonst diese nothwendige Einschränkung nicht übersah, ja sogar mit Vor-
liebe sich für eine Epoche der Kunst aussprach, welche nichts weniger
als unmittelbar nach dem höchsten Stoffe griff, sich den Vorwurf zu-
gezogen, daß er gerade an den entscheidenden Stellen diesen wesentlichen
Punkt schief darstellte. Die Hauptstelle ist Aesthetik B. 1. S. 96, 97.
Die Forderung zunächst einer bestimmten Idee liegt zwar hier entschieden
in dem Ausdrucke vor: "die Idee als das Kunstschöne ist die Idee mit
der näheren Bestimmung, wesentlich individuelle Wirklichkeit zu seyn,
so wie eine individuelle Gestaltung der Wirklichkeit mit der Bestimmung,
in sich wesentlich die Idee erscheinen zu lassen." Die individuelle Gestalt
kann offenbar zunächst nur diese oder jene Idee in sich zur vollen Er-
scheinung bringen. Gleich darauf aber wird dies geradezu abgewiesen und
behauptet, es werde, wenn man es dem Kunstschönen freistelle, diese
oder jene
Idee zur Darstellung zu bringen, in formalistischer Weise
blose Richtigkeit statt Schönheit gefordert. Dies ist ein ganz über-
eilter Schluß, dessen Grund sich übrigens einsehen läßt. Hegel hat
vorher ausgesprochen, daß die Idee im Kunstschönen nicht die Idee in
dem Sinne sey, wie sie eine metaphysische Logik als das Absolute aufzu-
fassen habe, sondern die Idee, insofern sie zur Wirklichkeit fortgestaltet
sey und mit dieser Wirklichkeit in unmittelbar entsprechender Einheit sich
darstelle. Nun fürchtet er, wenn er "diese oder jene" Idee als Inhalt
des Schönen zulasse, so denke man an blos logische Kategorien, oder ab-
stracte Begriffe, wie man ja solche häufig genug als Inhalt künstlerischer
Darstellung wählen zu dürfen gemeint hat. Allein gegen diese Besorg-
niß hat er sich ja vielmehr ebendadurch gedeckt, daß er ausdrücklich die
ästhetisch darstellbare Idee erst im Reiche des Lebens beginnen läßt, und
es bedurfte etwa nur noch einer besonderen Verwahrung, wie sie im
folgenden §. niedergelegt werden wird, um dieses Mißverständniß aus-
zuschließen. Allerdings scheint diesem Mangel noch eine andere, geheime
Ursache zu Grunde zu liegen. In der Lehre vom Ideale nämlich unter-
läßt Hegel zwar nicht, dasselbe als ein bestimmtes darzustellen, d. h.
als ein solches, das sich durch die Religion in einen Götterkreis, das
sich in der menschlichen Welt in verschiedene Zustände, Mächte des
Handelns, Charaktere auseinanderlegt. Ueberall jedoch zeigt er hier und
sonst eine entschiedene Neigung, sogleich nur den höchsten und bedeutendsten

Engeln, Heiligen u. ſ. w. auseinander zu legen, denn die Geſtalt iſt zu
begrenzt und beſtimmt, um ohne die Mitte der Beſonderheit das All-
gemeinſte in ſich darzuſtellen. Dennoch hat Hegel, indem er zwar
ſonſt dieſe nothwendige Einſchränkung nicht überſah, ja ſogar mit Vor-
liebe ſich für eine Epoche der Kunſt ausſprach, welche nichts weniger
als unmittelbar nach dem höchſten Stoffe griff, ſich den Vorwurf zu-
gezogen, daß er gerade an den entſcheidenden Stellen dieſen weſentlichen
Punkt ſchief darſtellte. Die Hauptſtelle iſt Aeſthetik B. 1. S. 96, 97.
Die Forderung zunächſt einer beſtimmten Idee liegt zwar hier entſchieden
in dem Ausdrucke vor: „die Idee als das Kunſtſchöne iſt die Idee mit
der näheren Beſtimmung, weſentlich individuelle Wirklichkeit zu ſeyn,
ſo wie eine individuelle Geſtaltung der Wirklichkeit mit der Beſtimmung,
in ſich weſentlich die Idee erſcheinen zu laſſen.“ Die individuelle Geſtalt
kann offenbar zunächſt nur dieſe oder jene Idee in ſich zur vollen Er-
ſcheinung bringen. Gleich darauf aber wird dies geradezu abgewieſen und
behauptet, es werde, wenn man es dem Kunſtſchönen freiſtelle, dieſe
oder jene
Idee zur Darſtellung zu bringen, in formaliſtiſcher Weiſe
bloſe Richtigkeit ſtatt Schönheit gefordert. Dies iſt ein ganz über-
eilter Schluß, deſſen Grund ſich übrigens einſehen läßt. Hegel hat
vorher ausgeſprochen, daß die Idee im Kunſtſchönen nicht die Idee in
dem Sinne ſey, wie ſie eine metaphyſiſche Logik als das Abſolute aufzu-
faſſen habe, ſondern die Idee, inſofern ſie zur Wirklichkeit fortgeſtaltet
ſey und mit dieſer Wirklichkeit in unmittelbar entſprechender Einheit ſich
darſtelle. Nun fürchtet er, wenn er „dieſe oder jene“ Idee als Inhalt
des Schönen zulaſſe, ſo denke man an blos logiſche Kategorien, oder ab-
ſtracte Begriffe, wie man ja ſolche häufig genug als Inhalt künſtleriſcher
Darſtellung wählen zu dürfen gemeint hat. Allein gegen dieſe Beſorg-
niß hat er ſich ja vielmehr ebendadurch gedeckt, daß er ausdrücklich die
äſthetiſch darſtellbare Idee erſt im Reiche des Lebens beginnen läßt, und
es bedurfte etwa nur noch einer beſonderen Verwahrung, wie ſie im
folgenden §. niedergelegt werden wird, um dieſes Mißverſtändniß aus-
zuſchließen. Allerdings ſcheint dieſem Mangel noch eine andere, geheime
Urſache zu Grunde zu liegen. In der Lehre vom Ideale nämlich unter-
läßt Hegel zwar nicht, dasſelbe als ein beſtimmtes darzuſtellen, d. h.
als ein ſolches, das ſich durch die Religion in einen Götterkreis, das
ſich in der menſchlichen Welt in verſchiedene Zuſtände, Mächte des
Handelns, Charaktere auseinanderlegt. Ueberall jedoch zeigt er hier und
ſonſt eine entſchiedene Neigung, ſogleich nur den höchſten und bedeutendſten

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[56/0070] Engeln, Heiligen u. ſ. w. auseinander zu legen, denn die Geſtalt iſt zu begrenzt und beſtimmt, um ohne die Mitte der Beſonderheit das All- gemeinſte in ſich darzuſtellen. Dennoch hat Hegel, indem er zwar ſonſt dieſe nothwendige Einſchränkung nicht überſah, ja ſogar mit Vor- liebe ſich für eine Epoche der Kunſt ausſprach, welche nichts weniger als unmittelbar nach dem höchſten Stoffe griff, ſich den Vorwurf zu- gezogen, daß er gerade an den entſcheidenden Stellen dieſen weſentlichen Punkt ſchief darſtellte. Die Hauptſtelle iſt Aeſthetik B. 1. S. 96, 97. Die Forderung zunächſt einer beſtimmten Idee liegt zwar hier entſchieden in dem Ausdrucke vor: „die Idee als das Kunſtſchöne iſt die Idee mit der näheren Beſtimmung, weſentlich individuelle Wirklichkeit zu ſeyn, ſo wie eine individuelle Geſtaltung der Wirklichkeit mit der Beſtimmung, in ſich weſentlich die Idee erſcheinen zu laſſen.“ Die individuelle Geſtalt kann offenbar zunächſt nur dieſe oder jene Idee in ſich zur vollen Er- ſcheinung bringen. Gleich darauf aber wird dies geradezu abgewieſen und behauptet, es werde, wenn man es dem Kunſtſchönen freiſtelle, dieſe oder jene Idee zur Darſtellung zu bringen, in formaliſtiſcher Weiſe bloſe Richtigkeit ſtatt Schönheit gefordert. Dies iſt ein ganz über- eilter Schluß, deſſen Grund ſich übrigens einſehen läßt. Hegel hat vorher ausgeſprochen, daß die Idee im Kunſtſchönen nicht die Idee in dem Sinne ſey, wie ſie eine metaphyſiſche Logik als das Abſolute aufzu- faſſen habe, ſondern die Idee, inſofern ſie zur Wirklichkeit fortgeſtaltet ſey und mit dieſer Wirklichkeit in unmittelbar entſprechender Einheit ſich darſtelle. Nun fürchtet er, wenn er „dieſe oder jene“ Idee als Inhalt des Schönen zulaſſe, ſo denke man an blos logiſche Kategorien, oder ab- ſtracte Begriffe, wie man ja ſolche häufig genug als Inhalt künſtleriſcher Darſtellung wählen zu dürfen gemeint hat. Allein gegen dieſe Beſorg- niß hat er ſich ja vielmehr ebendadurch gedeckt, daß er ausdrücklich die äſthetiſch darſtellbare Idee erſt im Reiche des Lebens beginnen läßt, und es bedurfte etwa nur noch einer beſonderen Verwahrung, wie ſie im folgenden §. niedergelegt werden wird, um dieſes Mißverſtändniß aus- zuſchließen. Allerdings ſcheint dieſem Mangel noch eine andere, geheime Urſache zu Grunde zu liegen. In der Lehre vom Ideale nämlich unter- läßt Hegel zwar nicht, dasſelbe als ein beſtimmtes darzuſtellen, d. h. als ein ſolches, das ſich durch die Religion in einen Götterkreis, das ſich in der menſchlichen Welt in verſchiedene Zuſtände, Mächte des Handelns, Charaktere auseinanderlegt. Ueberall jedoch zeigt er hier und ſonſt eine entſchiedene Neigung, ſogleich nur den höchſten und bedeutendſten

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/70>, abgerufen am 28.03.2024.