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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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und diese noch nicht zur Unruhe hervorgetreten sind, d. h. er ist un-
mittelbar, und Danzel müßte eigentlich von Hegel aussagen, daß er
nicht nur nicht das Schöne, sondern keinerlei Existenz aus seinem Stand-
punkt ableiten könnte, daß es hier überhaupt nichts Festes gebe. Es
gibt auch insofern nichts Festes, als sich Alles durch Alles hindurchzieht,
allein ebendeßwegen, weil jedes auf seine Weise das Andere mitenthält,
erhält es sich auch im Flusse des Ganzen und kann fest auf sich stehen.
Subjectiv nun wird dieses Ganze freilich nur dann wahrhaft begriffen,
wenn jedes Feste in wirklichen Fluß gebracht, wenn die Reihen der Ver-
mittlung, die sich in ihm ansammeln und von ihm wieder ausfließen,
auch wirklich denkend durchlaufen werden; dadurch wird aber keineswegs
ausgeschlossen, daß auch das Ergreifen des ganzen Flusses auf jedem
seiner Sammelpunkte durch eine Form der Unmittelbarkeit möglich sey, so
nämlich, daß in dem Einen, was der unmittelbaren Gewißheit entgegen-
tritt, die Summe der Vermittlungen geahnt wird. Vielmehr gefordert
wird diese Natur der Sammelpunkte, denn wie der Gegenstand eben
durch die Natur der Vermittlung das Unmittelbare setzt, um es aufzu-
heben, so auch der Geist, der den Gegenstand erkennt: er setzt die Kunst
und geht fort zur Philosophie, (denn daß sie weniger ist als diese, muß
sie sich freilich gefallen lassen); er ahnt die Gesammtreihe der Vermitt-
lungen im unmittelbar Angeschauten, ehe er sie denkt, er setzt das Ein-
zelne in die Perspective der Unendlichkeit. Dieß ist nicht ein Ueberspringen
der Vermittlungen, wodurch freilich die Theosophie, und, wie Danzel
hätte hinzusetzen können, als einziges Darstellungsmittel die Allegorie in
die Kunst eingeführt wird, sondern es ist ein Ineinander. Im Denken
wird dieß ein Nacheinander; doch diese Zeitform ist Explication eines
Außerzeitlichen, der Geist bewegt sich in der Form der Zeit, aber er ist
nicht die Zeit, daher nimmt er sich auch aus ihr in sich zurück und die
Philosophie wird im Philosophen zum Charakter, zum Besitze und selbst
zur Seeligkeit der Empfindung. Hegel hat also Recht, wenn er aus-
spricht, daß die Kunst die Dinge in ihrer Wahrheit erfaßt, indem sie sie
isolirt (Aesth. 1, S. 196.). Jede Ansammlung der Vermittlungen zu
einem Unmittelbaren weist zugleich hinter sich zurück und über sich hinaus.
Dadurch ist diese Existenz zugleich arm und reich. Was sie in sich auf-
genommen und zur Selbständigkeit fixirt, das hat sie zugleich als seinen
Feind in sich und um sich. Der menschliche Leib ist die höchste Samm-
lung aller Naturkräfte, aber sie prozessiren in ihm fort, nähren ihn von
außen und zehren zugleich an ihm. Die Kunst erhöht die Seite des

und dieſe noch nicht zur Unruhe hervorgetreten ſind, d. h. er iſt un-
mittelbar, und Danzel müßte eigentlich von Hegel ausſagen, daß er
nicht nur nicht das Schöne, ſondern keinerlei Exiſtenz aus ſeinem Stand-
punkt ableiten könnte, daß es hier überhaupt nichts Feſtes gebe. Es
gibt auch inſofern nichts Feſtes, als ſich Alles durch Alles hindurchzieht,
allein ebendeßwegen, weil jedes auf ſeine Weiſe das Andere mitenthält,
erhält es ſich auch im Fluſſe des Ganzen und kann feſt auf ſich ſtehen.
Subjectiv nun wird dieſes Ganze freilich nur dann wahrhaft begriffen,
wenn jedes Feſte in wirklichen Fluß gebracht, wenn die Reihen der Ver-
mittlung, die ſich in ihm anſammeln und von ihm wieder ausfließen,
auch wirklich denkend durchlaufen werden; dadurch wird aber keineswegs
ausgeſchloſſen, daß auch das Ergreifen des ganzen Fluſſes auf jedem
ſeiner Sammelpunkte durch eine Form der Unmittelbarkeit möglich ſey, ſo
nämlich, daß in dem Einen, was der unmittelbaren Gewißheit entgegen-
tritt, die Summe der Vermittlungen geahnt wird. Vielmehr gefordert
wird dieſe Natur der Sammelpunkte, denn wie der Gegenſtand eben
durch die Natur der Vermittlung das Unmittelbare ſetzt, um es aufzu-
heben, ſo auch der Geiſt, der den Gegenſtand erkennt: er ſetzt die Kunſt
und geht fort zur Philoſophie, (denn daß ſie weniger iſt als dieſe, muß
ſie ſich freilich gefallen laſſen); er ahnt die Geſammtreihe der Vermitt-
lungen im unmittelbar Angeſchauten, ehe er ſie denkt, er ſetzt das Ein-
zelne in die Perſpective der Unendlichkeit. Dieß iſt nicht ein Ueberſpringen
der Vermittlungen, wodurch freilich die Theoſophie, und, wie Danzel
hätte hinzuſetzen können, als einziges Darſtellungsmittel die Allegorie in
die Kunſt eingeführt wird, ſondern es iſt ein Ineinander. Im Denken
wird dieß ein Nacheinander; doch dieſe Zeitform iſt Explication eines
Außerzeitlichen, der Geiſt bewegt ſich in der Form der Zeit, aber er iſt
nicht die Zeit, daher nimmt er ſich auch aus ihr in ſich zurück und die
Philoſophie wird im Philoſophen zum Charakter, zum Beſitze und ſelbſt
zur Seeligkeit der Empfindung. Hegel hat alſo Recht, wenn er aus-
ſpricht, daß die Kunſt die Dinge in ihrer Wahrheit erfaßt, indem ſie ſie
iſolirt (Aeſth. 1, S. 196.). Jede Anſammlung der Vermittlungen zu
einem Unmittelbaren weist zugleich hinter ſich zurück und über ſich hinaus.
Dadurch iſt dieſe Exiſtenz zugleich arm und reich. Was ſie in ſich auf-
genommen und zur Selbſtändigkeit fixirt, das hat ſie zugleich als ſeinen
Feind in ſich und um ſich. Der menſchliche Leib iſt die höchſte Samm-
lung aller Naturkräfte, aber ſie prozeſſiren in ihm fort, nähren ihn von
außen und zehren zugleich an ihm. Die Kunſt erhöht die Seite des

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[64/0078] und dieſe noch nicht zur Unruhe hervorgetreten ſind, d. h. er iſt un- mittelbar, und Danzel müßte eigentlich von Hegel ausſagen, daß er nicht nur nicht das Schöne, ſondern keinerlei Exiſtenz aus ſeinem Stand- punkt ableiten könnte, daß es hier überhaupt nichts Feſtes gebe. Es gibt auch inſofern nichts Feſtes, als ſich Alles durch Alles hindurchzieht, allein ebendeßwegen, weil jedes auf ſeine Weiſe das Andere mitenthält, erhält es ſich auch im Fluſſe des Ganzen und kann feſt auf ſich ſtehen. Subjectiv nun wird dieſes Ganze freilich nur dann wahrhaft begriffen, wenn jedes Feſte in wirklichen Fluß gebracht, wenn die Reihen der Ver- mittlung, die ſich in ihm anſammeln und von ihm wieder ausfließen, auch wirklich denkend durchlaufen werden; dadurch wird aber keineswegs ausgeſchloſſen, daß auch das Ergreifen des ganzen Fluſſes auf jedem ſeiner Sammelpunkte durch eine Form der Unmittelbarkeit möglich ſey, ſo nämlich, daß in dem Einen, was der unmittelbaren Gewißheit entgegen- tritt, die Summe der Vermittlungen geahnt wird. Vielmehr gefordert wird dieſe Natur der Sammelpunkte, denn wie der Gegenſtand eben durch die Natur der Vermittlung das Unmittelbare ſetzt, um es aufzu- heben, ſo auch der Geiſt, der den Gegenſtand erkennt: er ſetzt die Kunſt und geht fort zur Philoſophie, (denn daß ſie weniger iſt als dieſe, muß ſie ſich freilich gefallen laſſen); er ahnt die Geſammtreihe der Vermitt- lungen im unmittelbar Angeſchauten, ehe er ſie denkt, er ſetzt das Ein- zelne in die Perſpective der Unendlichkeit. Dieß iſt nicht ein Ueberſpringen der Vermittlungen, wodurch freilich die Theoſophie, und, wie Danzel hätte hinzuſetzen können, als einziges Darſtellungsmittel die Allegorie in die Kunſt eingeführt wird, ſondern es iſt ein Ineinander. Im Denken wird dieß ein Nacheinander; doch dieſe Zeitform iſt Explication eines Außerzeitlichen, der Geiſt bewegt ſich in der Form der Zeit, aber er iſt nicht die Zeit, daher nimmt er ſich auch aus ihr in ſich zurück und die Philoſophie wird im Philoſophen zum Charakter, zum Beſitze und ſelbſt zur Seeligkeit der Empfindung. Hegel hat alſo Recht, wenn er aus- ſpricht, daß die Kunſt die Dinge in ihrer Wahrheit erfaßt, indem ſie ſie iſolirt (Aeſth. 1, S. 196.). Jede Anſammlung der Vermittlungen zu einem Unmittelbaren weist zugleich hinter ſich zurück und über ſich hinaus. Dadurch iſt dieſe Exiſtenz zugleich arm und reich. Was ſie in ſich auf- genommen und zur Selbſtändigkeit fixirt, das hat ſie zugleich als ſeinen Feind in ſich und um ſich. Der menſchliche Leib iſt die höchſte Samm- lung aller Naturkräfte, aber ſie prozeſſiren in ihm fort, nähren ihn von außen und zehren zugleich an ihm. Die Kunſt erhöht die Seite des

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/78>, abgerufen am 29.03.2024.