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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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treten. Der Grundbegriff ist ein Gegenübertreten von Subject (in gewissem
Sinne, nämlich ohne Bewußtsein, was im strengsten Begriffe der Subjec-
tivität allerdings liegt) und Object. Mit der Loslösung vom Boden ist dieser
Bruch da, die Nabelschnur ist zerrissen, dem selbständig Lebendigen steht
die Welt gegenüber, denn mit ihr zugleich sind die Mittel dieser Gegen-
überstellung, die Sinne: Gefühl, Geschmack, Geruch, Gesicht, Gehör da.
Es ist im Thiere dieselbe Welt, die ihm gegenübersteht; die Grundstoffe
der unorganischen Natur und der Pflanze sind in ihm zu einem sich um
sich selbst bewegenden Kreise concentrirt und dieselben Grundstoffe stehen
ihm in elementarischer und in organisch individualisirter Gestalt gegenüber.
Die Natur macht in ihm und durch es sich selbst sich zum Gegenstande,
genießt sich, schaut sich an. Sie sind geschieden und in der Scheidung
wesentlich auf einander gespannt und bezogen, denn sie sind Eines. Mit
dieser Scheidung ist ein doppeltes Neues eingetreten: dem Thiere wird dem
Umfang nach ein ungleich weiterer Kreis von Gegenständen zum Object,
als der Pflanze, zugleich aber auch auf ganz andere Weise, zunächst
wieder quantitativ durch die verschiedenen Sinne, aber ebendarum auch
qualitativ, weil diese ein Innewerden des Gegenstands in seinem Gegensatz
und seiner Beziehung zu dem Subject als einem selbständigen, sich selbst
vernehmenden Mittelpunkte sind. Von den unteren (vegetativen) Prozessen
bleibt nur das Geschäft der Athmung, Verdauung und dadurch des Wachs-
thums ein unfrei fortdauerndes; aber auch hier tritt die Entzweiung ein, die
sich vor Allem durch willkührliche Bewegungen ausspricht: die Nahrung
wird zum selbständigen Ergreifen, die Zeugung zu einem Begatten durch
einen besondern Act, und nachdem dieß geschehen, ist das Thier wieder
frei für Anderes. Im Schlafe kehrt es zu dem blos vegetativen Prozesse
zurück, doch auch dieß nicht schlechthin, denn es träumt, wenigstens das
höher organisirte Thier.

§. 284.

Diese Werkzeuge, so wie die für den gesammten übrigen Lebensprozeß
bestimmten Glieder sind nun erst wahrhaft Organe zu nennen; sie können nicht
verstümmelt oder abgelöst werden, ohne daß das Ganze leidet, ersetzen sich nur
bei den niedrigsten Gattungen und können abgetrennt niemals ein neues Indi-
viduum begründen. Jedes Organ oder Glied ist aus der selbstthätigen Einheit
entlassen und wird ebenso von ihr als überall gegenwärtiger Lebendigkeit stets
in das Ganze zurückgenommen. Die Selbständigkeit dieses Ganzen zeigt sich
wesentlich auch darin, daß die zum Ergreifen und ersten Verarbeiten der
Nahrung, so wie die zur Bewegung bestimmten und gewisse andere Organe
zugleich Waffen sind.


treten. Der Grundbegriff iſt ein Gegenübertreten von Subject (in gewiſſem
Sinne, nämlich ohne Bewußtſein, was im ſtrengſten Begriffe der Subjec-
tivität allerdings liegt) und Object. Mit der Loslöſung vom Boden iſt dieſer
Bruch da, die Nabelſchnur iſt zerriſſen, dem ſelbſtändig Lebendigen ſteht
die Welt gegenüber, denn mit ihr zugleich ſind die Mittel dieſer Gegen-
überſtellung, die Sinne: Gefühl, Geſchmack, Geruch, Geſicht, Gehör da.
Es iſt im Thiere dieſelbe Welt, die ihm gegenüberſteht; die Grundſtoffe
der unorganiſchen Natur und der Pflanze ſind in ihm zu einem ſich um
ſich ſelbſt bewegenden Kreiſe concentrirt und dieſelben Grundſtoffe ſtehen
ihm in elementariſcher und in organiſch individualiſirter Geſtalt gegenüber.
Die Natur macht in ihm und durch es ſich ſelbſt ſich zum Gegenſtande,
genießt ſich, ſchaut ſich an. Sie ſind geſchieden und in der Scheidung
weſentlich auf einander geſpannt und bezogen, denn ſie ſind Eines. Mit
dieſer Scheidung iſt ein doppeltes Neues eingetreten: dem Thiere wird dem
Umfang nach ein ungleich weiterer Kreis von Gegenſtänden zum Object,
als der Pflanze, zugleich aber auch auf ganz andere Weiſe, zunächſt
wieder quantitativ durch die verſchiedenen Sinne, aber ebendarum auch
qualitativ, weil dieſe ein Innewerden des Gegenſtands in ſeinem Gegenſatz
und ſeiner Beziehung zu dem Subject als einem ſelbſtändigen, ſich ſelbſt
vernehmenden Mittelpunkte ſind. Von den unteren (vegetativen) Prozeſſen
bleibt nur das Geſchäft der Athmung, Verdauung und dadurch des Wachs-
thums ein unfrei fortdauerndes; aber auch hier tritt die Entzweiung ein, die
ſich vor Allem durch willkührliche Bewegungen ausſpricht: die Nahrung
wird zum ſelbſtändigen Ergreifen, die Zeugung zu einem Begatten durch
einen beſondern Act, und nachdem dieß geſchehen, iſt das Thier wieder
frei für Anderes. Im Schlafe kehrt es zu dem blos vegetativen Prozeſſe
zurück, doch auch dieß nicht ſchlechthin, denn es träumt, wenigſtens das
höher organiſirte Thier.

§. 284.

Dieſe Werkzeuge, ſo wie die für den geſammten übrigen Lebensprozeß
beſtimmten Glieder ſind nun erſt wahrhaft Organe zu nennen; ſie können nicht
verſtümmelt oder abgelöst werden, ohne daß das Ganze leidet, erſetzen ſich nur
bei den niedrigſten Gattungen und können abgetrennt niemals ein neues Indi-
viduum begründen. Jedes Organ oder Glied iſt aus der ſelbſtthätigen Einheit
entlaſſen und wird ebenſo von ihr als überall gegenwärtiger Lebendigkeit ſtets
in das Ganze zurückgenommen. Die Selbſtändigkeit dieſes Ganzen zeigt ſich
weſentlich auch darin, daß die zum Ergreifen und erſten Verarbeiten der
Nahrung, ſo wie die zur Bewegung beſtimmten und gewiſſe andere Organe
zugleich Waffen ſind.


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[103/0115] treten. Der Grundbegriff iſt ein Gegenübertreten von Subject (in gewiſſem Sinne, nämlich ohne Bewußtſein, was im ſtrengſten Begriffe der Subjec- tivität allerdings liegt) und Object. Mit der Loslöſung vom Boden iſt dieſer Bruch da, die Nabelſchnur iſt zerriſſen, dem ſelbſtändig Lebendigen ſteht die Welt gegenüber, denn mit ihr zugleich ſind die Mittel dieſer Gegen- überſtellung, die Sinne: Gefühl, Geſchmack, Geruch, Geſicht, Gehör da. Es iſt im Thiere dieſelbe Welt, die ihm gegenüberſteht; die Grundſtoffe der unorganiſchen Natur und der Pflanze ſind in ihm zu einem ſich um ſich ſelbſt bewegenden Kreiſe concentrirt und dieſelben Grundſtoffe ſtehen ihm in elementariſcher und in organiſch individualiſirter Geſtalt gegenüber. Die Natur macht in ihm und durch es ſich ſelbſt ſich zum Gegenſtande, genießt ſich, ſchaut ſich an. Sie ſind geſchieden und in der Scheidung weſentlich auf einander geſpannt und bezogen, denn ſie ſind Eines. Mit dieſer Scheidung iſt ein doppeltes Neues eingetreten: dem Thiere wird dem Umfang nach ein ungleich weiterer Kreis von Gegenſtänden zum Object, als der Pflanze, zugleich aber auch auf ganz andere Weiſe, zunächſt wieder quantitativ durch die verſchiedenen Sinne, aber ebendarum auch qualitativ, weil dieſe ein Innewerden des Gegenſtands in ſeinem Gegenſatz und ſeiner Beziehung zu dem Subject als einem ſelbſtändigen, ſich ſelbſt vernehmenden Mittelpunkte ſind. Von den unteren (vegetativen) Prozeſſen bleibt nur das Geſchäft der Athmung, Verdauung und dadurch des Wachs- thums ein unfrei fortdauerndes; aber auch hier tritt die Entzweiung ein, die ſich vor Allem durch willkührliche Bewegungen ausſpricht: die Nahrung wird zum ſelbſtändigen Ergreifen, die Zeugung zu einem Begatten durch einen beſondern Act, und nachdem dieß geſchehen, iſt das Thier wieder frei für Anderes. Im Schlafe kehrt es zu dem blos vegetativen Prozeſſe zurück, doch auch dieß nicht ſchlechthin, denn es träumt, wenigſtens das höher organiſirte Thier. §. 284. Dieſe Werkzeuge, ſo wie die für den geſammten übrigen Lebensprozeß beſtimmten Glieder ſind nun erſt wahrhaft Organe zu nennen; ſie können nicht verſtümmelt oder abgelöst werden, ohne daß das Ganze leidet, erſetzen ſich nur bei den niedrigſten Gattungen und können abgetrennt niemals ein neues Indi- viduum begründen. Jedes Organ oder Glied iſt aus der ſelbſtthätigen Einheit entlaſſen und wird ebenſo von ihr als überall gegenwärtiger Lebendigkeit ſtets in das Ganze zurückgenommen. Die Selbſtändigkeit dieſes Ganzen zeigt ſich weſentlich auch darin, daß die zum Ergreifen und erſten Verarbeiten der Nahrung, ſo wie die zur Bewegung beſtimmten und gewiſſe andere Organe zugleich Waffen ſind.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/115>, abgerufen am 28.03.2024.