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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Wie schon gesagt, stehen nun die Insecten wie durch die strenge
Bestimmtheit ihrer Gestalt, so auch durch ihre seelischen Eigenschaften
am höchsten unter den niederen Thieren. Sie sind höchst rührig, immer
bewegt, die allgemeinen Durchwühler, Umkrabbler, Umflatterer, die
individualisirte Luft, die Alles umwebt, in Alles eindringt; leidenschaftlich,
lustig, wollüstig, zornig, höchst blutdürstig, wie denn unter den Raubkäfern
z. B. die Laufkäfer wahre Tiger der Insektenwelt sind; zudringlich, eigen-
sinnig, impertinent, nickelhaft. Es gibt noch zu lachen, wenn die Fliege
hundertmal weggejagt hundertmal auf dieselbe Stelle sitzt, wenn der Floh
mit seinem verhältnißmäßig ungeheuren Sprunge des Jägers spottet, es
wird aber die Frechheit schon lästig bei den schmerzlich stechenden Insecten,
den Schnaken, Bienen u. s. w. und eckelhaft bei der stinkenden Wanze, der
trägen Laus. Von dem Instincte der Insecten haben wir oben (§. 289, 2.)
schon gesprochen und gezeigt, warum ihr architectonischer und politischer
Trieb so hoch nicht zu stellen ist, als es scheint, während er übrigens
immer in einem ländlich anmuthigen Ganzen eine anziehende Stelle ein-
nimmt. Viel höher steht ihre List im Einzelnen: das sich todt Stellen
des Käfers u. s. w. Aber auch dieß will nicht viel sagen; sie sind und
bleiben dumme Thiere, dem Lichtreize willenlos Preis gegeben zappeln sie
sich an der Glasscheibe todt, verbrennen im Lichte, stechen ohne Grund und
Noth u. s. w.

Wie sie fast nur als individualisirte Luft erscheinen, so klingen nun
auch die Töne, die sie im Wohlgefühle des Lebens durch Reiben der
Flügeldeckel auf den Flügeln, durch die Bewegung dieser im Fluge u. s. w.
hervorbringen, dieß unendliche Summen an schönen Frühlings- und Sommer-
tagen, wie eine allgemeine Stimme aus unsichtbarem Munde, womit die
Schöpfung sich selbst den Segen der Wärme erzählt. Wie schöne Motive
sich da finden lassen, zeigt Anakreons Lied an die Cicade. Doch ist es
mehr die Vielheit der Insectenwelt, welche bekanntlich an Menge der
Individuen und Gattungen fast unübersehlich ist, was in die ästhetische
Betrachtung fällt. Das einzelne Insect kann um seiner Kleinheit willen
nur eben den Stoff zu einem solchen kleinen Liedchen oder zu irgend einem
Nebenmotiv geben. In Masse aber sind die Insecten theils auf die
genannte Weise ein allgemeiner Schmuck der Landschaft, theils können sie
als Landplagen wahrhaft furchtbar werden. Prophet Joel.

§. 295.

1

Es gilt aber im Grunde von allen Thieren dieser Vorstufe, daß sie
weniger als Individuen, denn in Massen als allgemeine Belebung eines Elements
ästhetische Bedeutung haben. Selbständige Geltung des Individuums tritt erst

Wie ſchon geſagt, ſtehen nun die Inſecten wie durch die ſtrenge
Beſtimmtheit ihrer Geſtalt, ſo auch durch ihre ſeeliſchen Eigenſchaften
am höchſten unter den niederen Thieren. Sie ſind höchſt rührig, immer
bewegt, die allgemeinen Durchwühler, Umkrabbler, Umflatterer, die
individualiſirte Luft, die Alles umwebt, in Alles eindringt; leidenſchaftlich,
luſtig, wollüſtig, zornig, höchſt blutdürſtig, wie denn unter den Raubkäfern
z. B. die Laufkäfer wahre Tiger der Inſektenwelt ſind; zudringlich, eigen-
ſinnig, impertinent, nickelhaft. Es gibt noch zu lachen, wenn die Fliege
hundertmal weggejagt hundertmal auf dieſelbe Stelle ſitzt, wenn der Floh
mit ſeinem verhältnißmäßig ungeheuren Sprunge des Jägers ſpottet, es
wird aber die Frechheit ſchon läſtig bei den ſchmerzlich ſtechenden Inſecten,
den Schnaken, Bienen u. ſ. w. und eckelhaft bei der ſtinkenden Wanze, der
trägen Laus. Von dem Inſtincte der Inſecten haben wir oben (§. 289, 2.)
ſchon geſprochen und gezeigt, warum ihr architectoniſcher und politiſcher
Trieb ſo hoch nicht zu ſtellen iſt, als es ſcheint, während er übrigens
immer in einem ländlich anmuthigen Ganzen eine anziehende Stelle ein-
nimmt. Viel höher ſteht ihre Liſt im Einzelnen: das ſich todt Stellen
des Käfers u. ſ. w. Aber auch dieß will nicht viel ſagen; ſie ſind und
bleiben dumme Thiere, dem Lichtreize willenlos Preis gegeben zappeln ſie
ſich an der Glasſcheibe todt, verbrennen im Lichte, ſtechen ohne Grund und
Noth u. ſ. w.

Wie ſie faſt nur als individualiſirte Luft erſcheinen, ſo klingen nun
auch die Töne, die ſie im Wohlgefühle des Lebens durch Reiben der
Flügeldeckel auf den Flügeln, durch die Bewegung dieſer im Fluge u. ſ. w.
hervorbringen, dieß unendliche Summen an ſchönen Frühlings- und Sommer-
tagen, wie eine allgemeine Stimme aus unſichtbarem Munde, womit die
Schöpfung ſich ſelbſt den Segen der Wärme erzählt. Wie ſchöne Motive
ſich da finden laſſen, zeigt Anakreons Lied an die Cicade. Doch iſt es
mehr die Vielheit der Inſectenwelt, welche bekanntlich an Menge der
Individuen und Gattungen faſt unüberſehlich iſt, was in die äſthetiſche
Betrachtung fällt. Das einzelne Inſect kann um ſeiner Kleinheit willen
nur eben den Stoff zu einem ſolchen kleinen Liedchen oder zu irgend einem
Nebenmotiv geben. In Maſſe aber ſind die Inſecten theils auf die
genannte Weiſe ein allgemeiner Schmuck der Landſchaft, theils können ſie
als Landplagen wahrhaft furchtbar werden. Prophet Joel.

§. 295.

1

Es gilt aber im Grunde von allen Thieren dieſer Vorſtufe, daß ſie
weniger als Individuen, denn in Maſſen als allgemeine Belebung eines Elements
äſthetiſche Bedeutung haben. Selbſtändige Geltung des Individuums tritt erſt

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[124/0136] Wie ſchon geſagt, ſtehen nun die Inſecten wie durch die ſtrenge Beſtimmtheit ihrer Geſtalt, ſo auch durch ihre ſeeliſchen Eigenſchaften am höchſten unter den niederen Thieren. Sie ſind höchſt rührig, immer bewegt, die allgemeinen Durchwühler, Umkrabbler, Umflatterer, die individualiſirte Luft, die Alles umwebt, in Alles eindringt; leidenſchaftlich, luſtig, wollüſtig, zornig, höchſt blutdürſtig, wie denn unter den Raubkäfern z. B. die Laufkäfer wahre Tiger der Inſektenwelt ſind; zudringlich, eigen- ſinnig, impertinent, nickelhaft. Es gibt noch zu lachen, wenn die Fliege hundertmal weggejagt hundertmal auf dieſelbe Stelle ſitzt, wenn der Floh mit ſeinem verhältnißmäßig ungeheuren Sprunge des Jägers ſpottet, es wird aber die Frechheit ſchon läſtig bei den ſchmerzlich ſtechenden Inſecten, den Schnaken, Bienen u. ſ. w. und eckelhaft bei der ſtinkenden Wanze, der trägen Laus. Von dem Inſtincte der Inſecten haben wir oben (§. 289, 2.) ſchon geſprochen und gezeigt, warum ihr architectoniſcher und politiſcher Trieb ſo hoch nicht zu ſtellen iſt, als es ſcheint, während er übrigens immer in einem ländlich anmuthigen Ganzen eine anziehende Stelle ein- nimmt. Viel höher ſteht ihre Liſt im Einzelnen: das ſich todt Stellen des Käfers u. ſ. w. Aber auch dieß will nicht viel ſagen; ſie ſind und bleiben dumme Thiere, dem Lichtreize willenlos Preis gegeben zappeln ſie ſich an der Glasſcheibe todt, verbrennen im Lichte, ſtechen ohne Grund und Noth u. ſ. w. Wie ſie faſt nur als individualiſirte Luft erſcheinen, ſo klingen nun auch die Töne, die ſie im Wohlgefühle des Lebens durch Reiben der Flügeldeckel auf den Flügeln, durch die Bewegung dieſer im Fluge u. ſ. w. hervorbringen, dieß unendliche Summen an ſchönen Frühlings- und Sommer- tagen, wie eine allgemeine Stimme aus unſichtbarem Munde, womit die Schöpfung ſich ſelbſt den Segen der Wärme erzählt. Wie ſchöne Motive ſich da finden laſſen, zeigt Anakreons Lied an die Cicade. Doch iſt es mehr die Vielheit der Inſectenwelt, welche bekanntlich an Menge der Individuen und Gattungen faſt unüberſehlich iſt, was in die äſthetiſche Betrachtung fällt. Das einzelne Inſect kann um ſeiner Kleinheit willen nur eben den Stoff zu einem ſolchen kleinen Liedchen oder zu irgend einem Nebenmotiv geben. In Maſſe aber ſind die Inſecten theils auf die genannte Weiſe ein allgemeiner Schmuck der Landſchaft, theils können ſie als Landplagen wahrhaft furchtbar werden. Prophet Joel. §. 295. Es gilt aber im Grunde von allen Thieren dieſer Vorſtufe, daß ſie weniger als Individuen, denn in Maſſen als allgemeine Belebung eines Elements äſthetiſche Bedeutung haben. Selbſtändige Geltung des Individuums tritt erſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/136>, abgerufen am 24.04.2024.