Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

daraus hervor, daß sie nicht auszuweichen wissen, wenn man hinter ihnen
fährt oder reitet.

3. Schaafe: Schönheit des Widderkopfs mit den gewundenen Hörnern;
ein tüchtiger Lockhammel schreitet seiner Heerde recht gravitätisch voraus.
(Homer: Odysseus.) Diesen Thieren gibt besonders die langgezogene
Nasenlinie den langweiligen, gähnenden Ausdruck, der bei dem Kameele
noch stärker ist. Auch die Schaafe sind so dumm, daß sie nicht einmal
auszuweichen wissen. Die eigentlichen Ziegen haben frei ausgebogene
Hörner; ihr Faunen-Charakter und ihre Gestalt bedarf ebenfalls keiner
Erläuterung. Sie machen sich äußerst malerisch an Büschen, Ruinen
gelagert, naschend. Sehr behaglich läßt es sich an, wenn sie sich mit
dem Horne kratzen. Der Bock ist ein gemachter Komiker. Uebrigens
beginnt bei ihnen der nach unten herausgebogene (umgekehrte) Hals, der
aber noch dürr und ihr häßlichster Theil ist und erst bei dem Hirsch-
geschlechte voll und schön wird. Zu diesem gehören die Rehe und Gemsen,
wozu die zierlichen, gefleckten Antilopen gerechnet werden und neben welche
die kurzgehörnte Giraffe sich stellen mag. Weitere Beschreibung ist über-
flüssig, nur auf das Auge mag noch besonders aufmerksam gemacht werden:
diese freiheitliebenden, nicht leicht an die Behausung des Menschen gewöhn-
baren und zum Dienste verwendbaren, flüchtigen Thiere haben das helle,
klare Auge des Wilds, das bei dem Raubvogel erwähnt wurde, auch bei
dem Hasen hätte erwähnt werden können und schon allein durch seine
offene Frische den in Stuben und Qualm versessenen Menschen erquickt;
es hat aber bei ihnen den sanften Ausdruck, der das Gazellenauge dem
vergleichenden Dichter so beliebt macht.

§. 310.

Zu Einem Hufe ziehen sich die beschuhten Zehen zusammen in der dritten
Ordnung, dem Pferde-Geschlechte, in welchem die dünneren Formen des
Hirsches ausgerundeter und zu stählerner Festigkeit gesammelt erscheinen, wodurch
die Schlankheit noch schwungvoller sich darstellt. An dem edlen und
freier gestellten Kopfe sind die Hörner verschwunden, Mähne und Schweif
erhöhen wallend die herrliche Bewegung des wiehernden, feurigen, nervösen,
muthigen, empfindlich stolzen und doch zur Arbeit wie zum Kriege dienstwilligen,
freundlichen, gelehrigen Thieres, dem als sein wahres Zerrbild der kleinere,
schwerfällige, eigensinnige Esel gegenübersteht.

In der Verwachsung der beschuhten Zehen, deren die vorhergehende
Gruppe zwei, die erste fünf, vier oder drei hat, zu Einem Hufe spricht
sich aus, daß das Pferd der fester zusammengefaßte Hirsch ist. Die

10*

daraus hervor, daß ſie nicht auszuweichen wiſſen, wenn man hinter ihnen
fährt oder reitet.

3. Schaafe: Schönheit des Widderkopfs mit den gewundenen Hörnern;
ein tüchtiger Lockhammel ſchreitet ſeiner Heerde recht gravitätiſch voraus.
(Homer: Odyſſeus.) Dieſen Thieren gibt beſonders die langgezogene
Naſenlinie den langweiligen, gähnenden Ausdruck, der bei dem Kameele
noch ſtärker iſt. Auch die Schaafe ſind ſo dumm, daß ſie nicht einmal
auszuweichen wiſſen. Die eigentlichen Ziegen haben frei ausgebogene
Hörner; ihr Faunen-Charakter und ihre Geſtalt bedarf ebenfalls keiner
Erläuterung. Sie machen ſich äußerſt maleriſch an Büſchen, Ruinen
gelagert, naſchend. Sehr behaglich läßt es ſich an, wenn ſie ſich mit
dem Horne kratzen. Der Bock iſt ein gemachter Komiker. Uebrigens
beginnt bei ihnen der nach unten herausgebogene (umgekehrte) Hals, der
aber noch dürr und ihr häßlichſter Theil iſt und erſt bei dem Hirſch-
geſchlechte voll und ſchön wird. Zu dieſem gehören die Rehe und Gemſen,
wozu die zierlichen, gefleckten Antilopen gerechnet werden und neben welche
die kurzgehörnte Giraffe ſich ſtellen mag. Weitere Beſchreibung iſt über-
flüſſig, nur auf das Auge mag noch beſonders aufmerkſam gemacht werden:
dieſe freiheitliebenden, nicht leicht an die Behauſung des Menſchen gewöhn-
baren und zum Dienſte verwendbaren, flüchtigen Thiere haben das helle,
klare Auge des Wilds, das bei dem Raubvogel erwähnt wurde, auch bei
dem Haſen hätte erwähnt werden können und ſchon allein durch ſeine
offene Friſche den in Stuben und Qualm verſeſſenen Menſchen erquickt;
es hat aber bei ihnen den ſanften Ausdruck, der das Gazellenauge dem
vergleichenden Dichter ſo beliebt macht.

§. 310.

Zu Einem Hufe ziehen ſich die beſchuhten Zehen zuſammen in der dritten
Ordnung, dem Pferde-Geſchlechte, in welchem die dünneren Formen des
Hirſches ausgerundeter und zu ſtählerner Feſtigkeit geſammelt erſcheinen, wodurch
die Schlankheit noch ſchwungvoller ſich darſtellt. An dem edlen und
freier geſtellten Kopfe ſind die Hörner verſchwunden, Mähne und Schweif
erhöhen wallend die herrliche Bewegung des wiehernden, feurigen, nervöſen,
muthigen, empfindlich ſtolzen und doch zur Arbeit wie zum Kriege dienſtwilligen,
freundlichen, gelehrigen Thieres, dem als ſein wahres Zerrbild der kleinere,
ſchwerfällige, eigenſinnige Eſel gegenüberſteht.

In der Verwachſung der beſchuhten Zehen, deren die vorhergehende
Gruppe zwei, die erſte fünf, vier oder drei hat, zu Einem Hufe ſpricht
ſich aus, daß das Pferd der feſter zuſammengefaßte Hirſch iſt. Die

10*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0159" n="147"/>
daraus hervor, daß &#x017F;ie nicht auszuweichen wi&#x017F;&#x017F;en, wenn man hinter ihnen<lb/>
fährt oder reitet.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">3. Schaafe: Schönheit des Widderkopfs mit den gewundenen Hörnern;<lb/>
ein tüchtiger Lockhammel &#x017F;chreitet &#x017F;einer Heerde recht gravitäti&#x017F;ch voraus.<lb/>
(Homer: Ody&#x017F;&#x017F;eus.) Die&#x017F;en Thieren gibt be&#x017F;onders die langgezogene<lb/>
Na&#x017F;enlinie den langweiligen, gähnenden Ausdruck, der bei dem Kameele<lb/>
noch &#x017F;tärker i&#x017F;t. Auch die Schaafe &#x017F;ind &#x017F;o dumm, daß &#x017F;ie nicht einmal<lb/>
auszuweichen wi&#x017F;&#x017F;en. Die eigentlichen Ziegen haben frei ausgebogene<lb/>
Hörner; ihr Faunen-Charakter und ihre Ge&#x017F;talt bedarf ebenfalls keiner<lb/>
Erläuterung. Sie machen &#x017F;ich äußer&#x017F;t maleri&#x017F;ch an Bü&#x017F;chen, Ruinen<lb/>
gelagert, na&#x017F;chend. Sehr behaglich läßt es &#x017F;ich an, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich mit<lb/>
dem Horne kratzen. Der Bock i&#x017F;t ein gemachter Komiker. Uebrigens<lb/>
beginnt bei ihnen der nach unten herausgebogene (umgekehrte) Hals, der<lb/>
aber noch dürr und ihr häßlich&#x017F;ter Theil i&#x017F;t und er&#x017F;t bei dem Hir&#x017F;ch-<lb/>
ge&#x017F;chlechte voll und &#x017F;chön wird. Zu die&#x017F;em gehören die Rehe und Gem&#x017F;en,<lb/>
wozu die zierlichen, gefleckten Antilopen gerechnet werden und neben welche<lb/>
die kurzgehörnte Giraffe &#x017F;ich &#x017F;tellen mag. Weitere Be&#x017F;chreibung i&#x017F;t über-<lb/>
flü&#x017F;&#x017F;ig, nur auf das Auge mag noch be&#x017F;onders aufmerk&#x017F;am gemacht werden:<lb/>
die&#x017F;e freiheitliebenden, nicht leicht an die Behau&#x017F;ung des Men&#x017F;chen gewöhn-<lb/>
baren und zum Dien&#x017F;te verwendbaren, flüchtigen Thiere haben das helle,<lb/>
klare Auge des Wilds, das bei dem Raubvogel erwähnt wurde, auch bei<lb/>
dem Ha&#x017F;en hätte erwähnt werden können und &#x017F;chon allein durch &#x017F;eine<lb/>
offene Fri&#x017F;che den in Stuben und Qualm ver&#x017F;e&#x017F;&#x017F;enen Men&#x017F;chen erquickt;<lb/>
es hat aber bei ihnen den &#x017F;anften Ausdruck, der das Gazellenauge dem<lb/>
vergleichenden Dichter &#x017F;o beliebt macht.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 310.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Zu Einem Hufe ziehen &#x017F;ich die be&#x017F;chuhten Zehen zu&#x017F;ammen in der dritten<lb/>
Ordnung, dem <hi rendition="#g">Pferde-Ge&#x017F;chlechte</hi>, in welchem die dünneren Formen des<lb/>
Hir&#x017F;ches ausgerundeter und zu &#x017F;tählerner Fe&#x017F;tigkeit ge&#x017F;ammelt er&#x017F;cheinen, wodurch<lb/>
die Schlankheit noch &#x017F;chwungvoller &#x017F;ich dar&#x017F;tellt. An dem edlen und<lb/>
freier ge&#x017F;tellten Kopfe &#x017F;ind die Hörner ver&#x017F;chwunden, Mähne und Schweif<lb/>
erhöhen wallend die herrliche Bewegung des wiehernden, feurigen, nervö&#x017F;en,<lb/>
muthigen, empfindlich &#x017F;tolzen und doch zur Arbeit wie zum Kriege dien&#x017F;twilligen,<lb/>
freundlichen, gelehrigen Thieres, dem als &#x017F;ein wahres Zerrbild der kleinere,<lb/>
&#x017F;chwerfällige, eigen&#x017F;innige E&#x017F;el gegenüber&#x017F;teht.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">In der Verwach&#x017F;ung der be&#x017F;chuhten Zehen, deren die vorhergehende<lb/>
Gruppe zwei, die er&#x017F;te fünf, vier oder drei hat, zu Einem Hufe &#x017F;pricht<lb/>
&#x017F;ich aus, daß das Pferd der fe&#x017F;ter zu&#x017F;ammengefaßte Hir&#x017F;ch i&#x017F;t. Die</hi><lb/>
                  <fw place="bottom" type="sig">10*</fw><lb/>
                </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[147/0159] daraus hervor, daß ſie nicht auszuweichen wiſſen, wenn man hinter ihnen fährt oder reitet. 3. Schaafe: Schönheit des Widderkopfs mit den gewundenen Hörnern; ein tüchtiger Lockhammel ſchreitet ſeiner Heerde recht gravitätiſch voraus. (Homer: Odyſſeus.) Dieſen Thieren gibt beſonders die langgezogene Naſenlinie den langweiligen, gähnenden Ausdruck, der bei dem Kameele noch ſtärker iſt. Auch die Schaafe ſind ſo dumm, daß ſie nicht einmal auszuweichen wiſſen. Die eigentlichen Ziegen haben frei ausgebogene Hörner; ihr Faunen-Charakter und ihre Geſtalt bedarf ebenfalls keiner Erläuterung. Sie machen ſich äußerſt maleriſch an Büſchen, Ruinen gelagert, naſchend. Sehr behaglich läßt es ſich an, wenn ſie ſich mit dem Horne kratzen. Der Bock iſt ein gemachter Komiker. Uebrigens beginnt bei ihnen der nach unten herausgebogene (umgekehrte) Hals, der aber noch dürr und ihr häßlichſter Theil iſt und erſt bei dem Hirſch- geſchlechte voll und ſchön wird. Zu dieſem gehören die Rehe und Gemſen, wozu die zierlichen, gefleckten Antilopen gerechnet werden und neben welche die kurzgehörnte Giraffe ſich ſtellen mag. Weitere Beſchreibung iſt über- flüſſig, nur auf das Auge mag noch beſonders aufmerkſam gemacht werden: dieſe freiheitliebenden, nicht leicht an die Behauſung des Menſchen gewöhn- baren und zum Dienſte verwendbaren, flüchtigen Thiere haben das helle, klare Auge des Wilds, das bei dem Raubvogel erwähnt wurde, auch bei dem Haſen hätte erwähnt werden können und ſchon allein durch ſeine offene Friſche den in Stuben und Qualm verſeſſenen Menſchen erquickt; es hat aber bei ihnen den ſanften Ausdruck, der das Gazellenauge dem vergleichenden Dichter ſo beliebt macht. §. 310. Zu Einem Hufe ziehen ſich die beſchuhten Zehen zuſammen in der dritten Ordnung, dem Pferde-Geſchlechte, in welchem die dünneren Formen des Hirſches ausgerundeter und zu ſtählerner Feſtigkeit geſammelt erſcheinen, wodurch die Schlankheit noch ſchwungvoller ſich darſtellt. An dem edlen und freier geſtellten Kopfe ſind die Hörner verſchwunden, Mähne und Schweif erhöhen wallend die herrliche Bewegung des wiehernden, feurigen, nervöſen, muthigen, empfindlich ſtolzen und doch zur Arbeit wie zum Kriege dienſtwilligen, freundlichen, gelehrigen Thieres, dem als ſein wahres Zerrbild der kleinere, ſchwerfällige, eigenſinnige Eſel gegenüberſteht. In der Verwachſung der beſchuhten Zehen, deren die vorhergehende Gruppe zwei, die erſte fünf, vier oder drei hat, zu Einem Hufe ſpricht ſich aus, daß das Pferd der feſter zuſammengefaßte Hirſch iſt. Die 10*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/159
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/159>, abgerufen am 28.03.2024.