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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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kann nicht mit der Natur brechen, sondern sie nur dadurch zum Geiste
befreien, daß er ihre Kraft und Grenze erkennt und, nachdem er sie erst
nur vorgefunden, nun will und frei setzt. Die Gewohnheit dieses Wollens
arbeitet sich dann in sie hinein und die Einheit beider Factoren, des
Angeborenen und des Freien, wird selbst wieder zur Natur. Im
Charakter nun geht die Welt in Einen Punkt zusammen; er ist nicht
nur eine Welt, sondern indem er alle Mächte der Welt, Naturbestimmtheit,
sittliches Leben in seinen Brennpunkt zusammenfaßt, die Welt. Das
Schöne ist immer Mikrokosmus, im tiefsten Sinne aber, wenn es den
wirklichen Mikrokosmus, den Charakter, zum Stoffe hat.

§. 334.

In dieser zweiten Natur wird, was durch Umbildung der ersten Natur
erkämpft ist, in die Wärme der unmittelbaren Lebendigkeit zurückverwandelt.
Das Denken, das den Willen in der Bildung des Charakters leitet, hallt in
Gefühlstiefe wieder, wird Gesinnung, die Gesinnung bewegt mächtig die Welt
der Triebe und Leidenschaften und hält sie zugleich zur Einheit des geistigen
Gesetzes zusammen. Mit dieser geistigen Wärme die Welt in sich und sich in
der Welt vernehmend heißt der Charakter Gemüth und dieß gibt ihm zu der
Schneide die Innigkeit.

Diese innere Resonanz des Charakters, wodurch er sich in seiner
Geistigkeit den Naturton bewahrt, ausdrücklich hervorgestellt zu haben,
wird uns später zu Statten kommen. Die Kunst wird ihre eigenen
Formen schaffen, worin sie den Wiederhall der Charakterwelt als innere
Bewegung ausspricht ohne den Uebergang in die Thätigkeit auf Objecte:
das ganze lyrische und musikalische Gebiet sucht hier seine Stoffe. Der
wahrhaft freie, Charakterbildende Wille nun ist ein umgesetztes Denken,
zunächst natürlich selbst ein praktisches, und dieses wird als ebensosehr
übergegangen in stetige Gefühlsstimmung Gesinnung genannt. Doch auch
das abstracte Denken dürfen wir jetzt nicht mehr bloß als Anlage (§. 319),
sondern auch als wirklich ausgebildetes Vermögen aufführen, sofern es
die Persönlichkeit als Gesinnung färbt und so in das Element zurücktritt,
das ihm die ästhetische Darstellbarkeit sichert, vergl. §. 103. Dieser
ganze geistig vertiefte Naturton gibt nun also dem Charakter sowohl in
der Schärfe des Denkens, als in der Straffheit der Richtung des Willens
auf den Zweck seine Wärme. Wenn wir die zusammengehaltene, im
eigenen Centrum unendlich webende und dieses Centrum zum Welt-
Einklang erweiternde Gefühlstiefe des Charakters Gemüth nennen, so
wende man nicht ein, der große Mann, der energisch Entschiedene sei

kann nicht mit der Natur brechen, ſondern ſie nur dadurch zum Geiſte
befreien, daß er ihre Kraft und Grenze erkennt und, nachdem er ſie erſt
nur vorgefunden, nun will und frei ſetzt. Die Gewohnheit dieſes Wollens
arbeitet ſich dann in ſie hinein und die Einheit beider Factoren, des
Angeborenen und des Freien, wird ſelbſt wieder zur Natur. Im
Charakter nun geht die Welt in Einen Punkt zuſammen; er iſt nicht
nur eine Welt, ſondern indem er alle Mächte der Welt, Naturbeſtimmtheit,
ſittliches Leben in ſeinen Brennpunkt zuſammenfaßt, die Welt. Das
Schöne iſt immer Mikrokoſmus, im tiefſten Sinne aber, wenn es den
wirklichen Mikrokoſmus, den Charakter, zum Stoffe hat.

§. 334.

In dieſer zweiten Natur wird, was durch Umbildung der erſten Natur
erkämpft iſt, in die Wärme der unmittelbaren Lebendigkeit zurückverwandelt.
Das Denken, das den Willen in der Bildung des Charakters leitet, hallt in
Gefühlstiefe wieder, wird Geſinnung, die Geſinnung bewegt mächtig die Welt
der Triebe und Leidenſchaften und hält ſie zugleich zur Einheit des geiſtigen
Geſetzes zuſammen. Mit dieſer geiſtigen Wärme die Welt in ſich und ſich in
der Welt vernehmend heißt der Charakter Gemüth und dieß gibt ihm zu der
Schneide die Innigkeit.

Dieſe innere Reſonanz des Charakters, wodurch er ſich in ſeiner
Geiſtigkeit den Naturton bewahrt, ausdrücklich hervorgeſtellt zu haben,
wird uns ſpäter zu Statten kommen. Die Kunſt wird ihre eigenen
Formen ſchaffen, worin ſie den Wiederhall der Charakterwelt als innere
Bewegung ausſpricht ohne den Uebergang in die Thätigkeit auf Objecte:
das ganze lyriſche und muſikaliſche Gebiet ſucht hier ſeine Stoffe. Der
wahrhaft freie, Charakterbildende Wille nun iſt ein umgeſetztes Denken,
zunächſt natürlich ſelbſt ein praktiſches, und dieſes wird als ebenſoſehr
übergegangen in ſtetige Gefühlsſtimmung Geſinnung genannt. Doch auch
das abſtracte Denken dürfen wir jetzt nicht mehr bloß als Anlage (§. 319),
ſondern auch als wirklich ausgebildetes Vermögen aufführen, ſofern es
die Perſönlichkeit als Geſinnung färbt und ſo in das Element zurücktritt,
das ihm die äſthetiſche Darſtellbarkeit ſichert, vergl. §. 103. Dieſer
ganze geiſtig vertiefte Naturton gibt nun alſo dem Charakter ſowohl in
der Schärfe des Denkens, als in der Straffheit der Richtung des Willens
auf den Zweck ſeine Wärme. Wenn wir die zuſammengehaltene, im
eigenen Centrum unendlich webende und dieſes Centrum zum Welt-
Einklang erweiternde Gefühlstiefe des Charakters Gemüth nennen, ſo
wende man nicht ein, der große Mann, der energiſch Entſchiedene ſei

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[198/0210] kann nicht mit der Natur brechen, ſondern ſie nur dadurch zum Geiſte befreien, daß er ihre Kraft und Grenze erkennt und, nachdem er ſie erſt nur vorgefunden, nun will und frei ſetzt. Die Gewohnheit dieſes Wollens arbeitet ſich dann in ſie hinein und die Einheit beider Factoren, des Angeborenen und des Freien, wird ſelbſt wieder zur Natur. Im Charakter nun geht die Welt in Einen Punkt zuſammen; er iſt nicht nur eine Welt, ſondern indem er alle Mächte der Welt, Naturbeſtimmtheit, ſittliches Leben in ſeinen Brennpunkt zuſammenfaßt, die Welt. Das Schöne iſt immer Mikrokoſmus, im tiefſten Sinne aber, wenn es den wirklichen Mikrokoſmus, den Charakter, zum Stoffe hat. §. 334. In dieſer zweiten Natur wird, was durch Umbildung der erſten Natur erkämpft iſt, in die Wärme der unmittelbaren Lebendigkeit zurückverwandelt. Das Denken, das den Willen in der Bildung des Charakters leitet, hallt in Gefühlstiefe wieder, wird Geſinnung, die Geſinnung bewegt mächtig die Welt der Triebe und Leidenſchaften und hält ſie zugleich zur Einheit des geiſtigen Geſetzes zuſammen. Mit dieſer geiſtigen Wärme die Welt in ſich und ſich in der Welt vernehmend heißt der Charakter Gemüth und dieß gibt ihm zu der Schneide die Innigkeit. Dieſe innere Reſonanz des Charakters, wodurch er ſich in ſeiner Geiſtigkeit den Naturton bewahrt, ausdrücklich hervorgeſtellt zu haben, wird uns ſpäter zu Statten kommen. Die Kunſt wird ihre eigenen Formen ſchaffen, worin ſie den Wiederhall der Charakterwelt als innere Bewegung ausſpricht ohne den Uebergang in die Thätigkeit auf Objecte: das ganze lyriſche und muſikaliſche Gebiet ſucht hier ſeine Stoffe. Der wahrhaft freie, Charakterbildende Wille nun iſt ein umgeſetztes Denken, zunächſt natürlich ſelbſt ein praktiſches, und dieſes wird als ebenſoſehr übergegangen in ſtetige Gefühlsſtimmung Geſinnung genannt. Doch auch das abſtracte Denken dürfen wir jetzt nicht mehr bloß als Anlage (§. 319), ſondern auch als wirklich ausgebildetes Vermögen aufführen, ſofern es die Perſönlichkeit als Geſinnung färbt und ſo in das Element zurücktritt, das ihm die äſthetiſche Darſtellbarkeit ſichert, vergl. §. 103. Dieſer ganze geiſtig vertiefte Naturton gibt nun alſo dem Charakter ſowohl in der Schärfe des Denkens, als in der Straffheit der Richtung des Willens auf den Zweck ſeine Wärme. Wenn wir die zuſammengehaltene, im eigenen Centrum unendlich webende und dieſes Centrum zum Welt- Einklang erweiternde Gefühlstiefe des Charakters Gemüth nennen, ſo wende man nicht ein, der große Mann, der energiſch Entſchiedene ſei

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/210>, abgerufen am 29.03.2024.