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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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sondern in Kunst, Religion. Carus bezeichnet sie zu weich als die Hand
der schönen Seele. Die individuelle Hand nun stellt in unendlichen Ver-
bindungen Uebergänge zwischen diesen Hauptformen dar; unter diesen
macht er die "spatelförmige" namhaft, mit feineren Fingern, als die
motorische, an der Spitze rundlich, aber stärker als die sensible, an-
schwellend, die Mitte zwischen dieser und jener darstellend: Verbindung
von kräftiger Bewegung und schärferer, tastender Unterscheidung, die Hand
des feineren Mechanikers u. s. w.

Am häufigsten an der sensibeln Hand wird man die eine der soge-
nannten sieben Schönheiten, den rothen Anflug an den Knöcheln, finden;
mit ihr und der seelischen wird häufig der schöngezeichnete Fuß mit hohl
liegend geschwungenem Reien, den Sinn der rhythmischen Bewegung
ankündigend, verbunden sein.

§. 339.

Ungleich verständlicher spricht sich das Innere in den Bewegungen des1
Körpers aus: mimischer Ausdruck. Derselbe beschränkt sich als Miene
auf das Angesicht, oder geht als Gebärde, theils die subjectiven Zustände,
theils objectiv Gegenstände darstellend, auf den ganzen Körper, vorzüglich die
Hände über; aber auch die Stimme und ihr Klang ist von wesentlicher Bedeutung.
Unwillkührlich oder wenigstens nie ganz durch Willkühr zu bewältigen ist der2
mimische Ausdruck des Affects: Pathognomik. Der Charakter aber unter-3
wirft sich den Körper, beherrscht ihn als sein Organ und drückt frei sein
inneres Leben durch ihn aus, wobei jedoch das Spiel der Bewegungen theils
an gewisse conventionelle Zeichen, theils an eine unwillkührliche Symbolik
gebunden bleibt und mit dem Freien zugleich der verborgene Naturgrund der
Individualität an den Tag tritt. In diesem ganzen Gebiete ist es wohl4
möglich, über das Allgemeine und Besondere Bestimmungen aufzustellen, aber
das Individuelle ist auch hier erst faßbar in dem Momente, wo es zugleich
mit anderweitigen, nicht mißdeutbaren Ausdrucksmitteln vor uns tritt.

1. Die Bewegung ist unmittelbar lebendiger Ausdruck des Innern,
der vor unsern Augen wird und vor sich geht. Sie verhält sich zum
Physiognomischen wie ein Gewitter, Meersturm, Erdbeben zu den festen
Formen der Erdbildungen. Diese scheinen auch zu erzählen von den
großen Bewegungen, wodurch sie geworden, aber sie sind stumme Zeugen,
ein Räthsel brütet über ihnen und der Zuschauer kann nur ahnen, was
sie zu sagen haben, jene Erscheinungen dagegen geschehen in gegenwärtiger
Bewegung vor unsern Augen, daher kann kein Zweifel sein über die Kraft
und ihre Wirkung. Es leuchtet aber doch auch das Unzulängliche dieser

ſondern in Kunſt, Religion. Carus bezeichnet ſie zu weich als die Hand
der ſchönen Seele. Die individuelle Hand nun ſtellt in unendlichen Ver-
bindungen Uebergänge zwiſchen dieſen Hauptformen dar; unter dieſen
macht er die „ſpatelförmige“ namhaft, mit feineren Fingern, als die
motoriſche, an der Spitze rundlich, aber ſtärker als die ſenſible, an-
ſchwellend, die Mitte zwiſchen dieſer und jener darſtellend: Verbindung
von kräftiger Bewegung und ſchärferer, taſtender Unterſcheidung, die Hand
des feineren Mechanikers u. ſ. w.

Am häufigſten an der ſenſibeln Hand wird man die eine der ſoge-
nannten ſieben Schönheiten, den rothen Anflug an den Knöcheln, finden;
mit ihr und der ſeeliſchen wird häufig der ſchöngezeichnete Fuß mit hohl
liegend geſchwungenem Reien, den Sinn der rhythmiſchen Bewegung
ankündigend, verbunden ſein.

§. 339.

Ungleich verſtändlicher ſpricht ſich das Innere in den Bewegungen des1
Körpers aus: mimiſcher Ausdruck. Derſelbe beſchränkt ſich als Miene
auf das Angeſicht, oder geht als Gebärde, theils die ſubjectiven Zuſtände,
theils objectiv Gegenſtände darſtellend, auf den ganzen Körper, vorzüglich die
Hände über; aber auch die Stimme und ihr Klang iſt von weſentlicher Bedeutung.
Unwillkührlich oder wenigſtens nie ganz durch Willkühr zu bewältigen iſt der2
mimiſche Ausdruck des Affects: Pathognomik. Der Charakter aber unter-3
wirft ſich den Körper, beherrſcht ihn als ſein Organ und drückt frei ſein
inneres Leben durch ihn aus, wobei jedoch das Spiel der Bewegungen theils
an gewiſſe conventionelle Zeichen, theils an eine unwillkührliche Symbolik
gebunden bleibt und mit dem Freien zugleich der verborgene Naturgrund der
Individualität an den Tag tritt. In dieſem ganzen Gebiete iſt es wohl4
möglich, über das Allgemeine und Beſondere Beſtimmungen aufzuſtellen, aber
das Individuelle iſt auch hier erſt faßbar in dem Momente, wo es zugleich
mit anderweitigen, nicht mißdeutbaren Ausdrucksmitteln vor uns tritt.

1. Die Bewegung iſt unmittelbar lebendiger Ausdruck des Innern,
der vor unſern Augen wird und vor ſich geht. Sie verhält ſich zum
Phyſiognomiſchen wie ein Gewitter, Meerſturm, Erdbeben zu den feſten
Formen der Erdbildungen. Dieſe ſcheinen auch zu erzählen von den
großen Bewegungen, wodurch ſie geworden, aber ſie ſind ſtumme Zeugen,
ein Räthſel brütet über ihnen und der Zuſchauer kann nur ahnen, was
ſie zu ſagen haben, jene Erſcheinungen dagegen geſchehen in gegenwärtiger
Bewegung vor unſern Augen, daher kann kein Zweifel ſein über die Kraft
und ihre Wirkung. Es leuchtet aber doch auch das Unzulängliche dieſer

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[213/0225] ſondern in Kunſt, Religion. Carus bezeichnet ſie zu weich als die Hand der ſchönen Seele. Die individuelle Hand nun ſtellt in unendlichen Ver- bindungen Uebergänge zwiſchen dieſen Hauptformen dar; unter dieſen macht er die „ſpatelförmige“ namhaft, mit feineren Fingern, als die motoriſche, an der Spitze rundlich, aber ſtärker als die ſenſible, an- ſchwellend, die Mitte zwiſchen dieſer und jener darſtellend: Verbindung von kräftiger Bewegung und ſchärferer, taſtender Unterſcheidung, die Hand des feineren Mechanikers u. ſ. w. Am häufigſten an der ſenſibeln Hand wird man die eine der ſoge- nannten ſieben Schönheiten, den rothen Anflug an den Knöcheln, finden; mit ihr und der ſeeliſchen wird häufig der ſchöngezeichnete Fuß mit hohl liegend geſchwungenem Reien, den Sinn der rhythmiſchen Bewegung ankündigend, verbunden ſein. §. 339. Ungleich verſtändlicher ſpricht ſich das Innere in den Bewegungen des Körpers aus: mimiſcher Ausdruck. Derſelbe beſchränkt ſich als Miene auf das Angeſicht, oder geht als Gebärde, theils die ſubjectiven Zuſtände, theils objectiv Gegenſtände darſtellend, auf den ganzen Körper, vorzüglich die Hände über; aber auch die Stimme und ihr Klang iſt von weſentlicher Bedeutung. Unwillkührlich oder wenigſtens nie ganz durch Willkühr zu bewältigen iſt der mimiſche Ausdruck des Affects: Pathognomik. Der Charakter aber unter- wirft ſich den Körper, beherrſcht ihn als ſein Organ und drückt frei ſein inneres Leben durch ihn aus, wobei jedoch das Spiel der Bewegungen theils an gewiſſe conventionelle Zeichen, theils an eine unwillkührliche Symbolik gebunden bleibt und mit dem Freien zugleich der verborgene Naturgrund der Individualität an den Tag tritt. In dieſem ganzen Gebiete iſt es wohl möglich, über das Allgemeine und Beſondere Beſtimmungen aufzuſtellen, aber das Individuelle iſt auch hier erſt faßbar in dem Momente, wo es zugleich mit anderweitigen, nicht mißdeutbaren Ausdrucksmitteln vor uns tritt. 1. Die Bewegung iſt unmittelbar lebendiger Ausdruck des Innern, der vor unſern Augen wird und vor ſich geht. Sie verhält ſich zum Phyſiognomiſchen wie ein Gewitter, Meerſturm, Erdbeben zu den feſten Formen der Erdbildungen. Dieſe ſcheinen auch zu erzählen von den großen Bewegungen, wodurch ſie geworden, aber ſie ſind ſtumme Zeugen, ein Räthſel brütet über ihnen und der Zuſchauer kann nur ahnen, was ſie zu ſagen haben, jene Erſcheinungen dagegen geſchehen in gegenwärtiger Bewegung vor unſern Augen, daher kann kein Zweifel ſein über die Kraft und ihre Wirkung. Es leuchtet aber doch auch das Unzulängliche dieſer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/225>, abgerufen am 29.03.2024.