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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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§. 350.

1

Die Despotie wird abgeworfen, der Staat ersteht zur Freiheit, wird
Demokratie. Jeder lebt im Ganzen, das Ganze in Jedem, Alles ist öffentlich,
2das Vaterland Lebensluft. Kein Stand kann verknöchern, alle bleiben elastisch.
3Das Individuum athmet Geistigkeit in Form edlerer Thierheit; das Privatleben
und die unendliche Eigenheit kann sich nicht in Tiefe ausbilden, Freundschaft
blüht mehr, als Liebe. Erhabene und doch jugendlich schöne Gestalten ragen
die großen Männer hervor.

1. Ein Flecken in der griechischen Freiheit sind die Heloten und
Sklaven. Keineswegs hat aber darum Hegel Recht, wenn er über
Griechenland den Satz aufstellt: "Einige sind frei" (im Orient nur
Einer). Freiheit kann hier nur Freiheit im Volke bedeuten, nicht philan-
thropische Anerkennung der allgemeinen Menschenwürde, welche erst in
neuester Zeit die Aufhebung der Sklaverei angefangen hat in's Werk zu
setzen. Die griechischen Sklaven waren überwundene oder gekaufte Menschen
eines fremden Volks, die Griechen waren alle frei. Im Mittelalter ist
es, wo nur Einige frei sind, da im eigenen Volke, was nicht Fürst, Adel,
Clerus, Bürger einer Stadt ist, keine politische Persönlichkeit hat, da der
Bauer wie ein Thier behandelt wird. Die Sklaverei war aber ein Flecken,
denn es ist nicht wahr, daß die Republik der Sklaven bedarf. Das Schöne
des freien Volkslebens aber war der Einklang des Individuums mit dem
Ganzen; es löste sich von der Substanz ab, aber diese setzte sich in es fort;
das Individuum war "die Bethätigung des Substantiellen." Der Verfall
begann mit der willkührlichen Ablösung, der egoistischen Selbständigkeit des
Einzelnen, der Demagogie. Ueber den Werth des republikanischen Lebens
als Stoff der Schönheit haben wir nichts hinzuzusetzen; nur der Mensch,
welcher Luft der Oeffentlichkeit athmet, den Freiheit umweht, der im Ganzen
webt, ist wahrer Schönheitsstoff, nur hier sind die ächten, großen Motive.

2. Beredtsamkeit als Kunst, das Interesse und die Thätigkeit für
das Oeffentliche zu entwickeln, war neben der Bildung zum Krieger mit
allen Mitteln der Gymnastik die Hauptform, die in der Theilung der
Geschäfte den Menschen menschlich frisch und frei erhielt. Sie ging aber
von selbst aus dem lebendigen Bewußtsein der Allgemeinheit und Geltung
in derselben hervor. Wo dagegen das Individuum bei dem besten Interesse
doch nichts über seinen beschränkten Kreis hinaus thun kann und darf, da
krümmt es sich zum Philister ein.

3. Zum Herrlichsten im Homer gehören seine Vergleichungen der
Helden mit Thieren. Jene Heroen sind, wiewohl voll reicher Lebendigkeit
und Vielseitigkeit, einfache Typen gewisser Charakter-Gattungen, wie die

§. 350.

1

Die Deſpotie wird abgeworfen, der Staat erſteht zur Freiheit, wird
Demokratie. Jeder lebt im Ganzen, das Ganze in Jedem, Alles iſt öffentlich,
2das Vaterland Lebensluft. Kein Stand kann verknöchern, alle bleiben elaſtiſch.
3Das Individuum athmet Geiſtigkeit in Form edlerer Thierheit; das Privatleben
und die unendliche Eigenheit kann ſich nicht in Tiefe ausbilden, Freundſchaft
blüht mehr, als Liebe. Erhabene und doch jugendlich ſchöne Geſtalten ragen
die großen Männer hervor.

1. Ein Flecken in der griechiſchen Freiheit ſind die Heloten und
Sklaven. Keineswegs hat aber darum Hegel Recht, wenn er über
Griechenland den Satz aufſtellt: „Einige ſind frei“ (im Orient nur
Einer). Freiheit kann hier nur Freiheit im Volke bedeuten, nicht philan-
thropiſche Anerkennung der allgemeinen Menſchenwürde, welche erſt in
neueſter Zeit die Aufhebung der Sklaverei angefangen hat in’s Werk zu
ſetzen. Die griechiſchen Sklaven waren überwundene oder gekaufte Menſchen
eines fremden Volks, die Griechen waren alle frei. Im Mittelalter iſt
es, wo nur Einige frei ſind, da im eigenen Volke, was nicht Fürſt, Adel,
Clerus, Bürger einer Stadt iſt, keine politiſche Perſönlichkeit hat, da der
Bauer wie ein Thier behandelt wird. Die Sklaverei war aber ein Flecken,
denn es iſt nicht wahr, daß die Republik der Sklaven bedarf. Das Schöne
des freien Volkslebens aber war der Einklang des Individuums mit dem
Ganzen; es löste ſich von der Subſtanz ab, aber dieſe ſetzte ſich in es fort;
das Individuum war „die Bethätigung des Subſtantiellen.“ Der Verfall
begann mit der willkührlichen Ablöſung, der egoiſtiſchen Selbſtändigkeit des
Einzelnen, der Demagogie. Ueber den Werth des republikaniſchen Lebens
als Stoff der Schönheit haben wir nichts hinzuzuſetzen; nur der Menſch,
welcher Luft der Oeffentlichkeit athmet, den Freiheit umweht, der im Ganzen
webt, iſt wahrer Schönheitsſtoff, nur hier ſind die ächten, großen Motive.

2. Beredtſamkeit als Kunſt, das Intereſſe und die Thätigkeit für
das Oeffentliche zu entwickeln, war neben der Bildung zum Krieger mit
allen Mitteln der Gymnaſtik die Hauptform, die in der Theilung der
Geſchäfte den Menſchen menſchlich friſch und frei erhielt. Sie ging aber
von ſelbſt aus dem lebendigen Bewußtſein der Allgemeinheit und Geltung
in derſelben hervor. Wo dagegen das Individuum bei dem beſten Intereſſe
doch nichts über ſeinen beſchränkten Kreis hinaus thun kann und darf, da
krümmt es ſich zum Philiſter ein.

3. Zum Herrlichſten im Homer gehören ſeine Vergleichungen der
Helden mit Thieren. Jene Heroen ſind, wiewohl voll reicher Lebendigkeit
und Vielſeitigkeit, einfache Typen gewiſſer Charakter-Gattungen, wie die

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[238/0250] §. 350. Die Deſpotie wird abgeworfen, der Staat erſteht zur Freiheit, wird Demokratie. Jeder lebt im Ganzen, das Ganze in Jedem, Alles iſt öffentlich, das Vaterland Lebensluft. Kein Stand kann verknöchern, alle bleiben elaſtiſch. Das Individuum athmet Geiſtigkeit in Form edlerer Thierheit; das Privatleben und die unendliche Eigenheit kann ſich nicht in Tiefe ausbilden, Freundſchaft blüht mehr, als Liebe. Erhabene und doch jugendlich ſchöne Geſtalten ragen die großen Männer hervor. 1. Ein Flecken in der griechiſchen Freiheit ſind die Heloten und Sklaven. Keineswegs hat aber darum Hegel Recht, wenn er über Griechenland den Satz aufſtellt: „Einige ſind frei“ (im Orient nur Einer). Freiheit kann hier nur Freiheit im Volke bedeuten, nicht philan- thropiſche Anerkennung der allgemeinen Menſchenwürde, welche erſt in neueſter Zeit die Aufhebung der Sklaverei angefangen hat in’s Werk zu ſetzen. Die griechiſchen Sklaven waren überwundene oder gekaufte Menſchen eines fremden Volks, die Griechen waren alle frei. Im Mittelalter iſt es, wo nur Einige frei ſind, da im eigenen Volke, was nicht Fürſt, Adel, Clerus, Bürger einer Stadt iſt, keine politiſche Perſönlichkeit hat, da der Bauer wie ein Thier behandelt wird. Die Sklaverei war aber ein Flecken, denn es iſt nicht wahr, daß die Republik der Sklaven bedarf. Das Schöne des freien Volkslebens aber war der Einklang des Individuums mit dem Ganzen; es löste ſich von der Subſtanz ab, aber dieſe ſetzte ſich in es fort; das Individuum war „die Bethätigung des Subſtantiellen.“ Der Verfall begann mit der willkührlichen Ablöſung, der egoiſtiſchen Selbſtändigkeit des Einzelnen, der Demagogie. Ueber den Werth des republikaniſchen Lebens als Stoff der Schönheit haben wir nichts hinzuzuſetzen; nur der Menſch, welcher Luft der Oeffentlichkeit athmet, den Freiheit umweht, der im Ganzen webt, iſt wahrer Schönheitsſtoff, nur hier ſind die ächten, großen Motive. 2. Beredtſamkeit als Kunſt, das Intereſſe und die Thätigkeit für das Oeffentliche zu entwickeln, war neben der Bildung zum Krieger mit allen Mitteln der Gymnaſtik die Hauptform, die in der Theilung der Geſchäfte den Menſchen menſchlich friſch und frei erhielt. Sie ging aber von ſelbſt aus dem lebendigen Bewußtſein der Allgemeinheit und Geltung in derſelben hervor. Wo dagegen das Individuum bei dem beſten Intereſſe doch nichts über ſeinen beſchränkten Kreis hinaus thun kann und darf, da krümmt es ſich zum Philiſter ein. 3. Zum Herrlichſten im Homer gehören ſeine Vergleichungen der Helden mit Thieren. Jene Heroen ſind, wiewohl voll reicher Lebendigkeit und Vielſeitigkeit, einfache Typen gewiſſer Charakter-Gattungen, wie die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/250>, abgerufen am 19.04.2024.