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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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der Große. Masse einzelner heroischer Momente, Poesie seines ganzen
Eroberungszugs, seines frühen Tods. Griechenland ist todt, nachdem es
erobernd geworden. Seine fortdauernde Scheinfreiheit, die Auflösung der
Reiche Alexanders d. Gr. sind ein widerwärtiges Bild. Die Kürze
griechischer Blüthe lag in ihrem Wesen. Natursittlichkeit ist zufällig,
ungarantirt, vergänglich wie Jugend.

Ausgang.
§. 352.

Der berechnete, harte und gewaltsame Römer gleicht den mehr praktischen1
Völkern der Vorstufe und erscheint dualistisch, doch in anderem Sinne, als die
Orientalen. In diesem ethischen Volke hat das Subject Vollgewicht objec-
tiven Lebens, aber düster und eigenwillig wie es ist, schließt es sich als
Individuum an das Ganze nur durch die strenge Arbeit der Pflicht, die ernste
Unterordnung an und ist geneigt, sich selbst als das Ganze aufzuwerfen. Die
Schönheit jener liberalen Einheit ist verschwunden, der herbe Dienst an ihre
Stelle getreten. Sämmtliche Culturformen sind bei aller Verwandtschaft mit den2
griechischen härter, gemessener, finsterer, die Feste theils blutige Spiele, theils
wesentlich Erholung vom Zwange der Subordination, der Cultus düster, an
Alles geknüpft, politisch.

1. Vergleicht man Griechen und Römer mit den obigen orientalischen
Völkergruppen, so entsprechen die Römer in der ersten den Persern, in
der zweiten den Semiten, wie die Griechen den Indiern, Aegyptiern.
Zwar kann bei den wahrhaft ethischen Völkern der vollere Gegensatz eines
contemplativen, in Religion und Phantasie productiven und eines praktischen,
geschichtlichen Volks nicht mehr auftreten. Die Griechen waren handelnd,
politisch, aber sie waren doch noch weit mehr Culturvolk, als Staatsvolk,
sie geben für den folgenden Abschnitt, die Phantasie, als Schönheit schaffende
Subjecte mehr Stoff ab, als für diesen objectiv durch ihre Geschichte.
Mit den Römern verhält es sich umgekehrt, wie der folg. §. zeigen wird.
Es ist eigenthümlich, daß dieses strenge und harte Volk ein Land bewohnte,
das als Halbinsel zwar auf die See hinausruft, wie Griechenland, dessen
Natur aber übrigens in den Erdformen milder erscheint, als die griechische:
weniger Gebirge, aber von reizenden Linien, breitere Stromthäler, aus-
gedehntere Küstenflächen. Die römische Campagna hat allerdings melan-
cholischen Charakter. Die Pflanzenwelt ist dieselbe, wie die griechische,
nur natürlich je mehr gegen Norden, desto mehr an Reichthum zurück-
stehend. Die Thierwelt verhielt sich ebenso; der Pferdeschlag nur war

Vischer's Aesthetik 2. Band. 16

der Große. Maſſe einzelner heroiſcher Momente, Poeſie ſeines ganzen
Eroberungszugs, ſeines frühen Tods. Griechenland iſt todt, nachdem es
erobernd geworden. Seine fortdauernde Scheinfreiheit, die Auflöſung der
Reiche Alexanders d. Gr. ſind ein widerwärtiges Bild. Die Kürze
griechiſcher Blüthe lag in ihrem Weſen. Naturſittlichkeit iſt zufällig,
ungarantirt, vergänglich wie Jugend.

Ausgang.
§. 352.

Der berechnete, harte und gewaltſame Römer gleicht den mehr praktiſchen1
Völkern der Vorſtufe und erſcheint dualiſtiſch, doch in anderem Sinne, als die
Orientalen. In dieſem ethiſchen Volke hat das Subject Vollgewicht objec-
tiven Lebens, aber düſter und eigenwillig wie es iſt, ſchließt es ſich als
Individuum an das Ganze nur durch die ſtrenge Arbeit der Pflicht, die ernſte
Unterordnung an und iſt geneigt, ſich ſelbſt als das Ganze aufzuwerfen. Die
Schönheit jener liberalen Einheit iſt verſchwunden, der herbe Dienſt an ihre
Stelle getreten. Sämmtliche Culturformen ſind bei aller Verwandtſchaft mit den2
griechiſchen härter, gemeſſener, finſterer, die Feſte theils blutige Spiele, theils
weſentlich Erholung vom Zwange der Subordination, der Cultus düſter, an
Alles geknüpft, politiſch.

1. Vergleicht man Griechen und Römer mit den obigen orientaliſchen
Völkergruppen, ſo entſprechen die Römer in der erſten den Perſern, in
der zweiten den Semiten, wie die Griechen den Indiern, Aegyptiern.
Zwar kann bei den wahrhaft ethiſchen Völkern der vollere Gegenſatz eines
contemplativen, in Religion und Phantaſie productiven und eines praktiſchen,
geſchichtlichen Volks nicht mehr auftreten. Die Griechen waren handelnd,
politiſch, aber ſie waren doch noch weit mehr Culturvolk, als Staatsvolk,
ſie geben für den folgenden Abſchnitt, die Phantaſie, als Schönheit ſchaffende
Subjecte mehr Stoff ab, als für dieſen objectiv durch ihre Geſchichte.
Mit den Römern verhält es ſich umgekehrt, wie der folg. §. zeigen wird.
Es iſt eigenthümlich, daß dieſes ſtrenge und harte Volk ein Land bewohnte,
das als Halbinſel zwar auf die See hinausruft, wie Griechenland, deſſen
Natur aber übrigens in den Erdformen milder erſcheint, als die griechiſche:
weniger Gebirge, aber von reizenden Linien, breitere Stromthäler, aus-
gedehntere Küſtenflächen. Die römiſche Campagna hat allerdings melan-
choliſchen Charakter. Die Pflanzenwelt iſt dieſelbe, wie die griechiſche,
nur natürlich je mehr gegen Norden, deſto mehr an Reichthum zurück-
ſtehend. Die Thierwelt verhielt ſich ebenſo; der Pferdeſchlag nur war

Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 16
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[241/0253] der Große. Maſſe einzelner heroiſcher Momente, Poeſie ſeines ganzen Eroberungszugs, ſeines frühen Tods. Griechenland iſt todt, nachdem es erobernd geworden. Seine fortdauernde Scheinfreiheit, die Auflöſung der Reiche Alexanders d. Gr. ſind ein widerwärtiges Bild. Die Kürze griechiſcher Blüthe lag in ihrem Weſen. Naturſittlichkeit iſt zufällig, ungarantirt, vergänglich wie Jugend. Ausgang. §. 352. Der berechnete, harte und gewaltſame Römer gleicht den mehr praktiſchen Völkern der Vorſtufe und erſcheint dualiſtiſch, doch in anderem Sinne, als die Orientalen. In dieſem ethiſchen Volke hat das Subject Vollgewicht objec- tiven Lebens, aber düſter und eigenwillig wie es iſt, ſchließt es ſich als Individuum an das Ganze nur durch die ſtrenge Arbeit der Pflicht, die ernſte Unterordnung an und iſt geneigt, ſich ſelbſt als das Ganze aufzuwerfen. Die Schönheit jener liberalen Einheit iſt verſchwunden, der herbe Dienſt an ihre Stelle getreten. Sämmtliche Culturformen ſind bei aller Verwandtſchaft mit den griechiſchen härter, gemeſſener, finſterer, die Feſte theils blutige Spiele, theils weſentlich Erholung vom Zwange der Subordination, der Cultus düſter, an Alles geknüpft, politiſch. 1. Vergleicht man Griechen und Römer mit den obigen orientaliſchen Völkergruppen, ſo entſprechen die Römer in der erſten den Perſern, in der zweiten den Semiten, wie die Griechen den Indiern, Aegyptiern. Zwar kann bei den wahrhaft ethiſchen Völkern der vollere Gegenſatz eines contemplativen, in Religion und Phantaſie productiven und eines praktiſchen, geſchichtlichen Volks nicht mehr auftreten. Die Griechen waren handelnd, politiſch, aber ſie waren doch noch weit mehr Culturvolk, als Staatsvolk, ſie geben für den folgenden Abſchnitt, die Phantaſie, als Schönheit ſchaffende Subjecte mehr Stoff ab, als für dieſen objectiv durch ihre Geſchichte. Mit den Römern verhält es ſich umgekehrt, wie der folg. §. zeigen wird. Es iſt eigenthümlich, daß dieſes ſtrenge und harte Volk ein Land bewohnte, das als Halbinſel zwar auf die See hinausruft, wie Griechenland, deſſen Natur aber übrigens in den Erdformen milder erſcheint, als die griechiſche: weniger Gebirge, aber von reizenden Linien, breitere Stromthäler, aus- gedehntere Küſtenflächen. Die römiſche Campagna hat allerdings melan- choliſchen Charakter. Die Pflanzenwelt iſt dieſelbe, wie die griechiſche, nur natürlich je mehr gegen Norden, deſto mehr an Reichthum zurück- ſtehend. Die Thierwelt verhielt ſich ebenſo; der Pferdeſchlag nur war Viſcher’s Aeſthetik 2. Band. 16

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/253>, abgerufen am 25.04.2024.