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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Hintergrunde des Unendlichen, aber diesem Hintergrunde verschrieben, und
wie sie in ihn wieder vergehen muß, so fließen die in ihr gesammelten
Lichtstrahlen weiter auf andere Gestalten und verlieren sich im Dunkel.
Diese Wahrheit tritt bei dem Anblicke des Beleuchteten in seinem Verhält-
nisse zum Dunkeln unmittelbar in's Gefühl. Lichtfreude ist Freude am
Sein und Freude des Seins; die ganze Stimmung lebt auf im Lichte und
sinkt nieder im Dunkel. Im Aesthetischen nun wäre zunächst dieses Lebens-
gefühl allerdings noch stoffartig zu nennen. Wir anticipiren hier die Gestalt
und unser Gegenstand ist noch Licht und Dunkel, in Wahrheit kommt es
erst darauf an, was beleuchtet und ob dieses Was ein Schönes sei,
allein, wie gesagt, in der Verbindung des Lichts mit der Gestalt kann der
Hauptnachdruck auf das erstere fallen; es wäre ohne Gestalt, die es
bescheint, nicht schön, aber hat es nur seinen Gegenstand in der Gestalt,
so kann der höhere Reiz in den reinen Verhältnissen seines Wirkens liegen.
Noch ehe dieß im nächsten §. weiter aufgefaßt wird, liefert das Folgende
einen Beweis.

3. Das Bild einer bestimmten Jahres- und Tageszeit kann sich uns
unter Umständen darstellen, wo das Hauptgewicht auf die Zustände der
vegetabilischen, thierischen, menschlichen Welt unseres Planeten fällt, wie
sie in der Kälte starrt, im Frühling erwacht, im Sommer glüht und lechzt,
im Herbst von ihrer Kraft und Lust Abschied nimmt, am Morgen kräftig
erwacht, im Mittag erschlafft, am Abend noch einmal auflebt, aber dann
der Ruhe entgegengeht. Aber dieß Schauspiel kann sich auch anders wenden,
durch die geringe Menge und Bedeutung der organischen Gestalten kann
das Auge bestimmt werden, sich wesentlich nach den Erscheinungen des
Lichtes, nach den Graden seiner Intensität zu wenden, sich an den Beleuch-
tungsverhältnissen zu weiden. Der Maler, von dem wir noch nicht reden,
kann das Eine oder Andere zum Stoffe nehmen, die Natur zeigt sich ohne
ihn bald so, daß die Gestalten, bald so, daß die Lichtverhältnisse, Licht-
spiele das Auge vorzüglich auf sich ziehen.

§. 243.

1

Die Körper verhalten sich aber nicht blos als Gegenstände zum Licht,
sie strahlen es nach der Art ihrer Oberfläche mehr oder minder zurück und
setzen es in die Schatten fort, glänzen, sind Spiegel. Hier beginnt bereits
ein in bestimmterem Sinne selbständiger Zauber der Lichtspiele, denn das Hinüber-
und Herüberwirken der Reflexe, die Wiederholung des eigenen Bildes im Andern
gleicht der inneren Kreisbewegung und der Anderes in sich aufnehmenden und
sich in Anderes fortsetzenden Thätigkeit des individuellen Lebens und ersetzt
gewissermaßen die Erscheinung des letzteren, die eigentlich zum Schönen erfordert

Hintergrunde des Unendlichen, aber dieſem Hintergrunde verſchrieben, und
wie ſie in ihn wieder vergehen muß, ſo fließen die in ihr geſammelten
Lichtſtrahlen weiter auf andere Geſtalten und verlieren ſich im Dunkel.
Dieſe Wahrheit tritt bei dem Anblicke des Beleuchteten in ſeinem Verhält-
niſſe zum Dunkeln unmittelbar in’s Gefühl. Lichtfreude iſt Freude am
Sein und Freude des Seins; die ganze Stimmung lebt auf im Lichte und
ſinkt nieder im Dunkel. Im Aeſthetiſchen nun wäre zunächſt dieſes Lebens-
gefühl allerdings noch ſtoffartig zu nennen. Wir anticipiren hier die Geſtalt
und unſer Gegenſtand iſt noch Licht und Dunkel, in Wahrheit kommt es
erſt darauf an, was beleuchtet und ob dieſes Was ein Schönes ſei,
allein, wie geſagt, in der Verbindung des Lichts mit der Geſtalt kann der
Hauptnachdruck auf das erſtere fallen; es wäre ohne Geſtalt, die es
beſcheint, nicht ſchön, aber hat es nur ſeinen Gegenſtand in der Geſtalt,
ſo kann der höhere Reiz in den reinen Verhältniſſen ſeines Wirkens liegen.
Noch ehe dieß im nächſten §. weiter aufgefaßt wird, liefert das Folgende
einen Beweis.

3. Das Bild einer beſtimmten Jahres- und Tageszeit kann ſich uns
unter Umſtänden darſtellen, wo das Hauptgewicht auf die Zuſtände der
vegetabiliſchen, thieriſchen, menſchlichen Welt unſeres Planeten fällt, wie
ſie in der Kälte ſtarrt, im Frühling erwacht, im Sommer glüht und lechzt,
im Herbſt von ihrer Kraft und Luſt Abſchied nimmt, am Morgen kräftig
erwacht, im Mittag erſchlafft, am Abend noch einmal auflebt, aber dann
der Ruhe entgegengeht. Aber dieß Schauſpiel kann ſich auch anders wenden,
durch die geringe Menge und Bedeutung der organiſchen Geſtalten kann
das Auge beſtimmt werden, ſich weſentlich nach den Erſcheinungen des
Lichtes, nach den Graden ſeiner Intenſität zu wenden, ſich an den Beleuch-
tungsverhältniſſen zu weiden. Der Maler, von dem wir noch nicht reden,
kann das Eine oder Andere zum Stoffe nehmen, die Natur zeigt ſich ohne
ihn bald ſo, daß die Geſtalten, bald ſo, daß die Lichtverhältniſſe, Licht-
ſpiele das Auge vorzüglich auf ſich ziehen.

§. 243.

1

Die Körper verhalten ſich aber nicht blos als Gegenſtände zum Licht,
ſie ſtrahlen es nach der Art ihrer Oberfläche mehr oder minder zurück und
ſetzen es in die Schatten fort, glänzen, ſind Spiegel. Hier beginnt bereits
ein in beſtimmterem Sinne ſelbſtändiger Zauber der Lichtſpiele, denn das Hinüber-
und Herüberwirken der Reflexe, die Wiederholung des eigenen Bildes im Andern
gleicht der inneren Kreisbewegung und der Anderes in ſich aufnehmenden und
ſich in Anderes fortſetzenden Thätigkeit des individuellen Lebens und erſetzt
gewiſſermaßen die Erſcheinung des letzteren, die eigentlich zum Schönen erfordert

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[32/0044] Hintergrunde des Unendlichen, aber dieſem Hintergrunde verſchrieben, und wie ſie in ihn wieder vergehen muß, ſo fließen die in ihr geſammelten Lichtſtrahlen weiter auf andere Geſtalten und verlieren ſich im Dunkel. Dieſe Wahrheit tritt bei dem Anblicke des Beleuchteten in ſeinem Verhält- niſſe zum Dunkeln unmittelbar in’s Gefühl. Lichtfreude iſt Freude am Sein und Freude des Seins; die ganze Stimmung lebt auf im Lichte und ſinkt nieder im Dunkel. Im Aeſthetiſchen nun wäre zunächſt dieſes Lebens- gefühl allerdings noch ſtoffartig zu nennen. Wir anticipiren hier die Geſtalt und unſer Gegenſtand iſt noch Licht und Dunkel, in Wahrheit kommt es erſt darauf an, was beleuchtet und ob dieſes Was ein Schönes ſei, allein, wie geſagt, in der Verbindung des Lichts mit der Geſtalt kann der Hauptnachdruck auf das erſtere fallen; es wäre ohne Geſtalt, die es beſcheint, nicht ſchön, aber hat es nur ſeinen Gegenſtand in der Geſtalt, ſo kann der höhere Reiz in den reinen Verhältniſſen ſeines Wirkens liegen. Noch ehe dieß im nächſten §. weiter aufgefaßt wird, liefert das Folgende einen Beweis. 3. Das Bild einer beſtimmten Jahres- und Tageszeit kann ſich uns unter Umſtänden darſtellen, wo das Hauptgewicht auf die Zuſtände der vegetabiliſchen, thieriſchen, menſchlichen Welt unſeres Planeten fällt, wie ſie in der Kälte ſtarrt, im Frühling erwacht, im Sommer glüht und lechzt, im Herbſt von ihrer Kraft und Luſt Abſchied nimmt, am Morgen kräftig erwacht, im Mittag erſchlafft, am Abend noch einmal auflebt, aber dann der Ruhe entgegengeht. Aber dieß Schauſpiel kann ſich auch anders wenden, durch die geringe Menge und Bedeutung der organiſchen Geſtalten kann das Auge beſtimmt werden, ſich weſentlich nach den Erſcheinungen des Lichtes, nach den Graden ſeiner Intenſität zu wenden, ſich an den Beleuch- tungsverhältniſſen zu weiden. Der Maler, von dem wir noch nicht reden, kann das Eine oder Andere zum Stoffe nehmen, die Natur zeigt ſich ohne ihn bald ſo, daß die Geſtalten, bald ſo, daß die Lichtverhältniſſe, Licht- ſpiele das Auge vorzüglich auf ſich ziehen. §. 243. Die Körper verhalten ſich aber nicht blos als Gegenſtände zum Licht, ſie ſtrahlen es nach der Art ihrer Oberfläche mehr oder minder zurück und ſetzen es in die Schatten fort, glänzen, ſind Spiegel. Hier beginnt bereits ein in beſtimmterem Sinne ſelbſtändiger Zauber der Lichtſpiele, denn das Hinüber- und Herüberwirken der Reflexe, die Wiederholung des eigenen Bildes im Andern gleicht der inneren Kreisbewegung und der Anderes in ſich aufnehmenden und ſich in Anderes fortſetzenden Thätigkeit des individuellen Lebens und erſetzt gewiſſermaßen die Erſcheinung des letzteren, die eigentlich zum Schönen erfordert

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/44>, abgerufen am 28.03.2024.