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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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2. Das doppelte Licht, das jetzt in der Malerei ebenso beliebt ist,
als das Bombardieren des Ohrs mit Toneffecten in der Musik, ist aller-
dings eine magische Schönheit, welche die Natur selbst aufzuweisen hat;
aber sie nimmt auch so sehr das Auge für sich in Anspruch, daß die so
beleuchteten Gestalten dagegen an Formenwerth verlieren, und weil wir durch
diese Bemerkung gelegentlich in die Kunst vorgreifen, so sei bemerkt, daß
die Natur freilich diesen Effect über eine Scene verbreiten kann, wo wir
sagen müßen, es sei schade, daß die Bedeutung derselben in diesem brillanten
Schimmer verschwinde, daß aber die Kunst billig wissen sollte, wo sie der
Natur folgen soll, wo nicht. Die Holländer wußten das besser und brachten
solche Effecte nur da an, wo kein Werth des beleuchteten Gegenstands
darunter leidet.

§. 245.

Alles Licht verliert sich durch Hindernisse in's Ungewisse; so entsteht ein
Scheinen in das Dunkel, dessen Grenzen nicht zu bestimmen sind, und ebendaher
ein Dunkel im Lichte; je mehr dieß der Fall ist, desto mehr verschwindet die
Bestimmtheit der beleuchteten individuellen Gestalten und wird das ungewisse
Verzittern und Verschweben des Lichts entschieden zum Mittelpunkte des äst-
hetischen Schauspiels: das Geheimniß des Helldunkels. Es gemahnt an
die unerforschten Tiefen der in Gefühl verhüllten Erkenntniß, der Ahnung;
es ist wesentlich ahnungsvoll.

Man pflegt in den Begriff des Helldunkels gewöhnlich die Wirkung
der Farbe mitaufzunehmen. Allerdings vollendet sich das Helldunkel durch
Farbe, allein man spricht mit Recht von einem Helldunkel auch im bloßen
Kupferstich, der Lithographie u. s. w., und so darf auch in der wissenschaft-
lichen Behandlung allerdings die Bestimmung des Helldunkels zunächst von
der Farbe abstrahiren. Wenn nun in der Art, wie hier das Helldunkel
bestimmt wird, wesentlich gesetzt ist, daß in dem wechselseitigen Verschweben
von Licht und Dunkel die Bestimmtheit der in Helldunkel gestellten Gestalten
gegen den Zauber seiner Wirkung in den Hintergrund tritt, indem ihre
Umrisse verschweben, so könnte dagegen gesagt werden, daß das Helldunkel
auch bei bestimmter Beleuchtung bestimmter Gestalten in den Zwischen-
partien seine Rolle spiele; dagegen ist zu erinnern, daß wir hier das
Helldunkel in seiner vollen und über ein Ganzes ausgebreiteten Wirkung
als Subject eines ästhetischen Ganzen vor uns haben. Im weiteren Sinne
aber verbindet es sich allerdings auch mit der Bestimmtheit der Beleuchtung;
die Grenzen, in welchen es sich dann zwischen den Wirkungen des deutlichen
Lichtes ausbreitet, sind in abstracto nicht zu bestimmen. Eine Landschaft
z. B. ist sonnig beleuchtet, aber in einer Waldpartie, welche darin vorkommt,

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2. Das doppelte Licht, das jetzt in der Malerei ebenſo beliebt iſt,
als das Bombardieren des Ohrs mit Toneffecten in der Muſik, iſt aller-
dings eine magiſche Schönheit, welche die Natur ſelbſt aufzuweiſen hat;
aber ſie nimmt auch ſo ſehr das Auge für ſich in Anſpruch, daß die ſo
beleuchteten Geſtalten dagegen an Formenwerth verlieren, und weil wir durch
dieſe Bemerkung gelegentlich in die Kunſt vorgreifen, ſo ſei bemerkt, daß
die Natur freilich dieſen Effect über eine Scene verbreiten kann, wo wir
ſagen müßen, es ſei ſchade, daß die Bedeutung derſelben in dieſem brillanten
Schimmer verſchwinde, daß aber die Kunſt billig wiſſen ſollte, wo ſie der
Natur folgen ſoll, wo nicht. Die Holländer wußten das beſſer und brachten
ſolche Effecte nur da an, wo kein Werth des beleuchteten Gegenſtands
darunter leidet.

§. 245.

Alles Licht verliert ſich durch Hinderniſſe in’s Ungewiſſe; ſo entſteht ein
Scheinen in das Dunkel, deſſen Grenzen nicht zu beſtimmen ſind, und ebendaher
ein Dunkel im Lichte; je mehr dieß der Fall iſt, deſto mehr verſchwindet die
Beſtimmtheit der beleuchteten individuellen Geſtalten und wird das ungewiſſe
Verzittern und Verſchweben des Lichts entſchieden zum Mittelpunkte des äſt-
hetiſchen Schauſpiels: das Geheimniß des Helldunkels. Es gemahnt an
die unerforſchten Tiefen der in Gefühl verhüllten Erkenntniß, der Ahnung;
es iſt weſentlich ahnungsvoll.

Man pflegt in den Begriff des Helldunkels gewöhnlich die Wirkung
der Farbe mitaufzunehmen. Allerdings vollendet ſich das Helldunkel durch
Farbe, allein man ſpricht mit Recht von einem Helldunkel auch im bloßen
Kupferſtich, der Lithographie u. ſ. w., und ſo darf auch in der wiſſenſchaft-
lichen Behandlung allerdings die Beſtimmung des Helldunkels zunächſt von
der Farbe abſtrahiren. Wenn nun in der Art, wie hier das Helldunkel
beſtimmt wird, weſentlich geſetzt iſt, daß in dem wechſelſeitigen Verſchweben
von Licht und Dunkel die Beſtimmtheit der in Helldunkel geſtellten Geſtalten
gegen den Zauber ſeiner Wirkung in den Hintergrund tritt, indem ihre
Umriſſe verſchweben, ſo könnte dagegen geſagt werden, daß das Helldunkel
auch bei beſtimmter Beleuchtung beſtimmter Geſtalten in den Zwiſchen-
partien ſeine Rolle ſpiele; dagegen iſt zu erinnern, daß wir hier das
Helldunkel in ſeiner vollen und über ein Ganzes ausgebreiteten Wirkung
als Subject eines äſthetiſchen Ganzen vor uns haben. Im weiteren Sinne
aber verbindet es ſich allerdings auch mit der Beſtimmtheit der Beleuchtung;
die Grenzen, in welchen es ſich dann zwiſchen den Wirkungen des deutlichen
Lichtes ausbreitet, ſind in abſtracto nicht zu beſtimmen. Eine Landſchaft
z. B. iſt ſonnig beleuchtet, aber in einer Waldpartie, welche darin vorkommt,

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[35/0047] 2. Das doppelte Licht, das jetzt in der Malerei ebenſo beliebt iſt, als das Bombardieren des Ohrs mit Toneffecten in der Muſik, iſt aller- dings eine magiſche Schönheit, welche die Natur ſelbſt aufzuweiſen hat; aber ſie nimmt auch ſo ſehr das Auge für ſich in Anſpruch, daß die ſo beleuchteten Geſtalten dagegen an Formenwerth verlieren, und weil wir durch dieſe Bemerkung gelegentlich in die Kunſt vorgreifen, ſo ſei bemerkt, daß die Natur freilich dieſen Effect über eine Scene verbreiten kann, wo wir ſagen müßen, es ſei ſchade, daß die Bedeutung derſelben in dieſem brillanten Schimmer verſchwinde, daß aber die Kunſt billig wiſſen ſollte, wo ſie der Natur folgen ſoll, wo nicht. Die Holländer wußten das beſſer und brachten ſolche Effecte nur da an, wo kein Werth des beleuchteten Gegenſtands darunter leidet. §. 245. Alles Licht verliert ſich durch Hinderniſſe in’s Ungewiſſe; ſo entſteht ein Scheinen in das Dunkel, deſſen Grenzen nicht zu beſtimmen ſind, und ebendaher ein Dunkel im Lichte; je mehr dieß der Fall iſt, deſto mehr verſchwindet die Beſtimmtheit der beleuchteten individuellen Geſtalten und wird das ungewiſſe Verzittern und Verſchweben des Lichts entſchieden zum Mittelpunkte des äſt- hetiſchen Schauſpiels: das Geheimniß des Helldunkels. Es gemahnt an die unerforſchten Tiefen der in Gefühl verhüllten Erkenntniß, der Ahnung; es iſt weſentlich ahnungsvoll. Man pflegt in den Begriff des Helldunkels gewöhnlich die Wirkung der Farbe mitaufzunehmen. Allerdings vollendet ſich das Helldunkel durch Farbe, allein man ſpricht mit Recht von einem Helldunkel auch im bloßen Kupferſtich, der Lithographie u. ſ. w., und ſo darf auch in der wiſſenſchaft- lichen Behandlung allerdings die Beſtimmung des Helldunkels zunächſt von der Farbe abſtrahiren. Wenn nun in der Art, wie hier das Helldunkel beſtimmt wird, weſentlich geſetzt iſt, daß in dem wechſelſeitigen Verſchweben von Licht und Dunkel die Beſtimmtheit der in Helldunkel geſtellten Geſtalten gegen den Zauber ſeiner Wirkung in den Hintergrund tritt, indem ihre Umriſſe verſchweben, ſo könnte dagegen geſagt werden, daß das Helldunkel auch bei beſtimmter Beleuchtung beſtimmter Geſtalten in den Zwiſchen- partien ſeine Rolle ſpiele; dagegen iſt zu erinnern, daß wir hier das Helldunkel in ſeiner vollen und über ein Ganzes ausgebreiteten Wirkung als Subject eines äſthetiſchen Ganzen vor uns haben. Im weiteren Sinne aber verbindet es ſich allerdings auch mit der Beſtimmtheit der Beleuchtung; die Grenzen, in welchen es ſich dann zwiſchen den Wirkungen des deutlichen Lichtes ausbreitet, ſind in abſtracto nicht zu beſtimmen. Eine Landſchaft z. B. iſt ſonnig beleuchtet, aber in einer Waldpartie, welche darin vorkommt, 3*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/47>, abgerufen am 24.04.2024.