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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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B.
Die Schönheit der organischen Natur.
a.
Die Schönheit des Pflanzenreichs.
§. 270.

Das erste lebendige Individuum und ebenhiemit der erste wahrhaft ver-
einigende Mittelpunkt aller bisher dargestellten Schönheit ist die Pflanze.
Licht, Luft, Wasser, Erde verwandelt sie in einem stetigen Kreislaufe in ihre
eigenen Säfte, aus denen sie ihre Gestalt als ein Ganzes von Organen, worin
Alles zugleich Mittel und Zweck ist, baut, beständig erneuert, bis zu dem ihr
gesetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr gesammter Ausdruck
zeigt das saugende, athmende, Säfte führende Wesen, welches an der unorganischen
Natur vollzieht, was ihre Bestimmung ist, nämlich Object und Stoff für solche
Wesen zu sein, in welchen die zerstreute Vielheit der Natur in selbstthätige
Einheit zusammengefaßt ist. Ein solches Leihen wie bei den früheren Erschei-
nungen ist daher bei diesem Gebilde nicht mehr nothwendig.

Es ist noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieses Acts
ist dem Zuschauer jetzt durch das Object selbst erspart; worin die andere
bestehe, wird sich zeigen. Die unorganische Natur ist jetzt für ein Leben-
diges da, das zu dem ästhetischen Gegenstande gehört; vorher war sie nur
für den Zuschauer da, sollte sie daher ein Ich, ein belebtes, beseeltes
Centrum haben, so mußte dieser sich selbst theilen, das eine der zwei Ich,
in die er sich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße
sie sich vermittelst desselben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu-
schauen. Ein Centrum ist nun im Objecte selbst, das nicht nur wie im

B.
Die Schönheit der organiſchen Natur.
a.
Die Schönheit des Pflanzenreichs.
§. 270.

Das erſte lebendige Individuum und ebenhiemit der erſte wahrhaft ver-
einigende Mittelpunkt aller bisher dargeſtellten Schönheit iſt die Pflanze.
Licht, Luft, Waſſer, Erde verwandelt ſie in einem ſtetigen Kreislaufe in ihre
eigenen Säfte, aus denen ſie ihre Geſtalt als ein Ganzes von Organen, worin
Alles zugleich Mittel und Zweck iſt, baut, beſtändig erneuert, bis zu dem ihr
geſetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr geſammter Ausdruck
zeigt das ſaugende, athmende, Säfte führende Weſen, welches an der unorganiſchen
Natur vollzieht, was ihre Beſtimmung iſt, nämlich Object und Stoff für ſolche
Weſen zu ſein, in welchen die zerſtreute Vielheit der Natur in ſelbſtthätige
Einheit zuſammengefaßt iſt. Ein ſolches Leihen wie bei den früheren Erſchei-
nungen iſt daher bei dieſem Gebilde nicht mehr nothwendig.

Es iſt noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieſes Acts
iſt dem Zuſchauer jetzt durch das Object ſelbſt erſpart; worin die andere
beſtehe, wird ſich zeigen. Die unorganiſche Natur iſt jetzt für ein Leben-
diges da, das zu dem äſthetiſchen Gegenſtande gehört; vorher war ſie nur
für den Zuſchauer da, ſollte ſie daher ein Ich, ein belebtes, beſeeltes
Centrum haben, ſo mußte dieſer ſich ſelbſt theilen, das eine der zwei Ich,
in die er ſich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße
ſie ſich vermittelſt desſelben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu-
ſchauen. Ein Centrum iſt nun im Objecte ſelbſt, das nicht nur wie im

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[[79]/0091] B. Die Schönheit der organiſchen Natur. a. Die Schönheit des Pflanzenreichs. §. 270. Das erſte lebendige Individuum und ebenhiemit der erſte wahrhaft ver- einigende Mittelpunkt aller bisher dargeſtellten Schönheit iſt die Pflanze. Licht, Luft, Waſſer, Erde verwandelt ſie in einem ſtetigen Kreislaufe in ihre eigenen Säfte, aus denen ſie ihre Geſtalt als ein Ganzes von Organen, worin Alles zugleich Mittel und Zweck iſt, baut, beſtändig erneuert, bis zu dem ihr geſetzten Maaße erweitert und neue Individuen zeugt. Ihr geſammter Ausdruck zeigt das ſaugende, athmende, Säfte führende Weſen, welches an der unorganiſchen Natur vollzieht, was ihre Beſtimmung iſt, nämlich Object und Stoff für ſolche Weſen zu ſein, in welchen die zerſtreute Vielheit der Natur in ſelbſtthätige Einheit zuſammengefaßt iſt. Ein ſolches Leihen wie bei den früheren Erſchei- nungen iſt daher bei dieſem Gebilde nicht mehr nothwendig. Es iſt noch ein Leihen nothwendig, aber die eine Hälfte dieſes Acts iſt dem Zuſchauer jetzt durch das Object ſelbſt erſpart; worin die andere beſtehe, wird ſich zeigen. Die unorganiſche Natur iſt jetzt für ein Leben- diges da, das zu dem äſthetiſchen Gegenſtande gehört; vorher war ſie nur für den Zuſchauer da, ſollte ſie daher ein Ich, ein belebtes, beſeeltes Centrum haben, ſo mußte dieſer ſich ſelbſt theilen, das eine der zwei Ich, in die er ſich theilte, der Natur unterlegen, als wolle, bewege, genieße ſie ſich vermittelſt desſelben, das andere aber zurückbehalten, um zuzu- ſchauen. Ein Centrum iſt nun im Objecte ſelbſt, das nicht nur wie im

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. [79]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/91>, abgerufen am 18.04.2024.