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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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ihren Mythen und Sagen nennen wir nicht phantastisch, denn in ihrem
Bewußtsein lag der Keim, der diese Luftgebilde hätte widerlegen können,
noch zu dunkel und unentwickelt. Weil kein Widerspruch in ihnen war,
handelten sie auch ganz zweifellos nach der realen Wahrheit, die jenen Ge-
bilden zu Grunde lag. Das Mittelalter dagegen ist der Naturreligion,
welche jedes Allgemeine in ein greiflich Einzelnes umwandelt, entwachsen
und wiederholt doch ihr Verfahren, daher ist es phantastisch. Das Wesen
seiner Weltanschauung ist näher phantastische Subjectivität. Der Geist
ist in sich gegangen, ist bei sich, die Lebensform ist subjectiv geworden.
Von da aus hätte er den Blick frei, alle andern Dinge unbefangen zu
sehen und zu behandeln, wie sie sind. Allein das Subject wirft sich selbst
sammt diesem Insichsein wieder in ein Jenseits hinaus und so sieht es
auch statt aller andern Dinge nur einen geisterhaften Doppelgänger der-
selben. Das Subject hat sich erfaßt und zugleich wieder verloren, hält
sich die Maske seines Selbst gegenüber und maskirt so Alles. Die Alten
blieben ruhig bei ihrer Mythologie und liehen den Göttern Alles, was
ihr unbefangener Blick im Menschen und der Natur richtig erkannt hatte;
das Mittelalter sieht unruhig wieder zurück auf das Subject und die Welt,
die ihr Mark an den Auszug der illusorischen zweiten Welt haben abge-
ben müssen; da ist ein allgemeines Doppeltsehen, ein allgemeines Ver-
schieben und Durchscheinen des Verschobenen durch die Zwischenwand,
ein Zwielicht, ein Schillern, das Alles in gebrochenen Farben und Lichtern
zeigt. Allerdings mußte aber jener Auszug auch unvollkommen bleiben; dieß
innerliche und träumerische Bewußtsein konnte keinen Staat bauen, daher feh-
len die Götter für den Organismus der Wirklichkeit, es gibt nur Götter
für das Herz, und dieser Mangel wirkt zurück, verstärkt die Aufregung
und unruhige Gefühlsschwärmerei.

§. 451.

Nunmehr ergibt sich die nähere Bestimmtheit dieser Phantasie, gehalten
an die in §. 402--404 aufgestellten Arten. Zuerst erhellt, daß sie wesentlich
auf die menschliche Schönheit gestellt ist; denn zu inniger Beseelung der
landschaftlichen Natur und zu gemüthlicher Auffassung der Thierwelt ist zwar
in dem unendlich vertieften Empfindungsleben die Bedingung gegeben, aber
theils durch die Reste des Mythischen der Ausblick gehemmt, theils die innere
Unendlichkeit noch zu wenig entfaltet, um ihr Interesse nicht ganz auf die
höchsten Angelegenheiten des Menschen zu beschränken. Gott ist Mensch ge-
worden, hat aber in dieser Gestalt nur dem innersten Leben in seiner Beziehung
zum Absoluten Heil gebracht.

Die landschaftliche Schönheit fängt allerdings an gefühlt zu werden,
mehr zwar in der deutschen, als in der romanischen Phantasie. Ein klei-

ihren Mythen und Sagen nennen wir nicht phantaſtiſch, denn in ihrem
Bewußtſein lag der Keim, der dieſe Luftgebilde hätte widerlegen können,
noch zu dunkel und unentwickelt. Weil kein Widerſpruch in ihnen war,
handelten ſie auch ganz zweifellos nach der realen Wahrheit, die jenen Ge-
bilden zu Grunde lag. Das Mittelalter dagegen iſt der Naturreligion,
welche jedes Allgemeine in ein greiflich Einzelnes umwandelt, entwachſen
und wiederholt doch ihr Verfahren, daher iſt es phantaſtiſch. Das Weſen
ſeiner Weltanſchauung iſt näher phantaſtiſche Subjectivität. Der Geiſt
iſt in ſich gegangen, iſt bei ſich, die Lebensform iſt ſubjectiv geworden.
Von da aus hätte er den Blick frei, alle andern Dinge unbefangen zu
ſehen und zu behandeln, wie ſie ſind. Allein das Subject wirft ſich ſelbſt
ſammt dieſem Inſichſein wieder in ein Jenſeits hinaus und ſo ſieht es
auch ſtatt aller andern Dinge nur einen geiſterhaften Doppelgänger der-
ſelben. Das Subject hat ſich erfaßt und zugleich wieder verloren, hält
ſich die Maſke ſeines Selbſt gegenüber und maſkirt ſo Alles. Die Alten
blieben ruhig bei ihrer Mythologie und liehen den Göttern Alles, was
ihr unbefangener Blick im Menſchen und der Natur richtig erkannt hatte;
das Mittelalter ſieht unruhig wieder zurück auf das Subject und die Welt,
die ihr Mark an den Auszug der illuſoriſchen zweiten Welt haben abge-
ben müſſen; da iſt ein allgemeines Doppeltſehen, ein allgemeines Ver-
ſchieben und Durchſcheinen des Verſchobenen durch die Zwiſchenwand,
ein Zwielicht, ein Schillern, das Alles in gebrochenen Farben und Lichtern
zeigt. Allerdings mußte aber jener Auszug auch unvollkommen bleiben; dieß
innerliche und träumeriſche Bewußtſein konnte keinen Staat bauen, daher feh-
len die Götter für den Organiſmus der Wirklichkeit, es gibt nur Götter
für das Herz, und dieſer Mangel wirkt zurück, verſtärkt die Aufregung
und unruhige Gefühlsſchwärmerei.

§. 451.

Nunmehr ergibt ſich die nähere Beſtimmtheit dieſer Phantaſie, gehalten
an die in §. 402—404 aufgeſtellten Arten. Zuerſt erhellt, daß ſie weſentlich
auf die menſchliche Schönheit geſtellt iſt; denn zu inniger Beſeelung der
landſchaftlichen Natur und zu gemüthlicher Auffaſſung der Thierwelt iſt zwar
in dem unendlich vertieften Empfindungsleben die Bedingung gegeben, aber
theils durch die Reſte des Mythiſchen der Ausblick gehemmt, theils die innere
Unendlichkeit noch zu wenig entfaltet, um ihr Intereſſe nicht ganz auf die
höchſten Angelegenheiten des Menſchen zu beſchränken. Gott iſt Menſch ge-
worden, hat aber in dieſer Geſtalt nur dem innerſten Leben in ſeiner Beziehung
zum Abſoluten Heil gebracht.

Die landſchaftliche Schönheit fängt allerdings an gefühlt zu werden,
mehr zwar in der deutſchen, als in der romaniſchen Phantaſie. Ein klei-

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[479/0193] ihren Mythen und Sagen nennen wir nicht phantaſtiſch, denn in ihrem Bewußtſein lag der Keim, der dieſe Luftgebilde hätte widerlegen können, noch zu dunkel und unentwickelt. Weil kein Widerſpruch in ihnen war, handelten ſie auch ganz zweifellos nach der realen Wahrheit, die jenen Ge- bilden zu Grunde lag. Das Mittelalter dagegen iſt der Naturreligion, welche jedes Allgemeine in ein greiflich Einzelnes umwandelt, entwachſen und wiederholt doch ihr Verfahren, daher iſt es phantaſtiſch. Das Weſen ſeiner Weltanſchauung iſt näher phantaſtiſche Subjectivität. Der Geiſt iſt in ſich gegangen, iſt bei ſich, die Lebensform iſt ſubjectiv geworden. Von da aus hätte er den Blick frei, alle andern Dinge unbefangen zu ſehen und zu behandeln, wie ſie ſind. Allein das Subject wirft ſich ſelbſt ſammt dieſem Inſichſein wieder in ein Jenſeits hinaus und ſo ſieht es auch ſtatt aller andern Dinge nur einen geiſterhaften Doppelgänger der- ſelben. Das Subject hat ſich erfaßt und zugleich wieder verloren, hält ſich die Maſke ſeines Selbſt gegenüber und maſkirt ſo Alles. Die Alten blieben ruhig bei ihrer Mythologie und liehen den Göttern Alles, was ihr unbefangener Blick im Menſchen und der Natur richtig erkannt hatte; das Mittelalter ſieht unruhig wieder zurück auf das Subject und die Welt, die ihr Mark an den Auszug der illuſoriſchen zweiten Welt haben abge- ben müſſen; da iſt ein allgemeines Doppeltſehen, ein allgemeines Ver- ſchieben und Durchſcheinen des Verſchobenen durch die Zwiſchenwand, ein Zwielicht, ein Schillern, das Alles in gebrochenen Farben und Lichtern zeigt. Allerdings mußte aber jener Auszug auch unvollkommen bleiben; dieß innerliche und träumeriſche Bewußtſein konnte keinen Staat bauen, daher feh- len die Götter für den Organiſmus der Wirklichkeit, es gibt nur Götter für das Herz, und dieſer Mangel wirkt zurück, verſtärkt die Aufregung und unruhige Gefühlsſchwärmerei. §. 451. Nunmehr ergibt ſich die nähere Beſtimmtheit dieſer Phantaſie, gehalten an die in §. 402—404 aufgeſtellten Arten. Zuerſt erhellt, daß ſie weſentlich auf die menſchliche Schönheit geſtellt iſt; denn zu inniger Beſeelung der landſchaftlichen Natur und zu gemüthlicher Auffaſſung der Thierwelt iſt zwar in dem unendlich vertieften Empfindungsleben die Bedingung gegeben, aber theils durch die Reſte des Mythiſchen der Ausblick gehemmt, theils die innere Unendlichkeit noch zu wenig entfaltet, um ihr Intereſſe nicht ganz auf die höchſten Angelegenheiten des Menſchen zu beſchränken. Gott iſt Menſch ge- worden, hat aber in dieſer Geſtalt nur dem innerſten Leben in ſeiner Beziehung zum Abſoluten Heil gebracht. Die landſchaftliche Schönheit fängt allerdings an gefühlt zu werden, mehr zwar in der deutſchen, als in der romaniſchen Phantaſie. Ein klei-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/193>, abgerufen am 25.04.2024.