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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Deutsche seinen Stoff subjectiv vergeistigt und psychologisch durchsichtig
macht. Diese Durchdringung ist freilich keine umfassende; Stellen, voll
stoffartiger ermüdender Masse ziehen sich dazwischen bis zur Pein aufrei-
bender langer Weile. An freier Herausarbeitung der Herzenstiefe in die
Anmuth der Form steht Gottfried von Straßburg dem Geiste der italienischen
Maler näher, übrigens bleibt, vorzüglich in der malerischen Phantasie,
das Leuchten des Ausdrucks durch hartkantige und schwerfällige Formen
dem deutschen Geiste eigen. Man hat diese Formen kurzweg als Natura-
lismus bezeichnet, allein ihr Grund ist die Berechtigung der Individualität
(vergl. 454) und man kann sie darum vielmehr gerade idealistisch nen-
nen: die harte Selbständigkeit vom Ausdruck der Idee durchdrungen. Wo
sich aber jene gegen diese empört, da ist der schon erwähnte tiefere Griff in das
furchtbar oder komisch Häßliche gegeben. Wie jedoch die dichtende Phan-
tasie in schwere Massenhaftigkeit, so geräth die bildende allerdings, wo
ihr das Band ausgeht, auch in rohe Naturnachahmung; gilt einmal
die Individualität, so liegt es näher, sich in die Aufnahme der gemeinen und
empirischen fallen zu lassen. Am reinsten aber durchdringt sich Ausdruck
und Erscheinung in den Schöpfungen der messenden Phantasie. -- Neben
diesen Naturalismus und jene Massenhaftigkeit fällt dann gestaltlose
Tiefe durch Ueberschuß des Gedankens, wie vorzüglich bei Wolfram, oder
der Empfindung, wie bei den meisten, und dieß gerade ist der Fehler,
wozu die deutsche Phantasie spezifisch geneigt ist.

3. Der Typus ist nicht förmliche Priestersatzung wie im Orient,
aber nothwendige Scheue vor der Aufhebung des unfreien Scheins, den
die volle Durchdringung, die Lösung der Formen von dem zaghaft Schüch-
ternen, kindlich Herben, aseetisch Dürren und Gebeugten zur Folge haben
müßte. Der Respect hält fest, was nach §. 456 aus der ganzen An-
schauungsweise an sich schon fließt.

g.
Ausgang.
§. 464.

Die höchste Blüthe dieses Ideals ist auch sein Ende. Freiere und aus-
gedehntere Aufnahme der ursprünglichen Stoffwelt, der Landschaft, des mensch-
lichen Lebens in unbefangener und heiterer Sinnlichkeit, in tüchtiger Selbständigkeit
des Daseins und Wirkens für rein weltliche Zwecke, harmonische Darstellung
dieser neu eröffneten sowie der früheren Sphären in fließender Anmuth der
Form, wodurch der Typus überwunden und zugleich die tastend sehende Phan-

Deutſche ſeinen Stoff ſubjectiv vergeiſtigt und pſychologiſch durchſichtig
macht. Dieſe Durchdringung iſt freilich keine umfaſſende; Stellen, voll
ſtoffartiger ermüdender Maſſe ziehen ſich dazwiſchen bis zur Pein aufrei-
bender langer Weile. An freier Herausarbeitung der Herzenstiefe in die
Anmuth der Form ſteht Gottfried von Straßburg dem Geiſte der italieniſchen
Maler näher, übrigens bleibt, vorzüglich in der maleriſchen Phantaſie,
das Leuchten des Ausdrucks durch hartkantige und ſchwerfällige Formen
dem deutſchen Geiſte eigen. Man hat dieſe Formen kurzweg als Natura-
liſmus bezeichnet, allein ihr Grund iſt die Berechtigung der Individualität
(vergl. 454) und man kann ſie darum vielmehr gerade idealiſtiſch nen-
nen: die harte Selbſtändigkeit vom Ausdruck der Idee durchdrungen. Wo
ſich aber jene gegen dieſe empört, da iſt der ſchon erwähnte tiefere Griff in das
furchtbar oder komiſch Häßliche gegeben. Wie jedoch die dichtende Phan-
taſie in ſchwere Maſſenhaftigkeit, ſo geräth die bildende allerdings, wo
ihr das Band ausgeht, auch in rohe Naturnachahmung; gilt einmal
die Individualität, ſo liegt es näher, ſich in die Aufnahme der gemeinen und
empiriſchen fallen zu laſſen. Am reinſten aber durchdringt ſich Ausdruck
und Erſcheinung in den Schöpfungen der meſſenden Phantaſie. — Neben
dieſen Naturaliſmus und jene Maſſenhaftigkeit fällt dann geſtaltloſe
Tiefe durch Ueberſchuß des Gedankens, wie vorzüglich bei Wolfram, oder
der Empfindung, wie bei den meiſten, und dieß gerade iſt der Fehler,
wozu die deutſche Phantaſie ſpezifiſch geneigt iſt.

3. Der Typus iſt nicht förmliche Prieſterſatzung wie im Orient,
aber nothwendige Scheue vor der Aufhebung des unfreien Scheins, den
die volle Durchdringung, die Löſung der Formen von dem zaghaft Schüch-
ternen, kindlich Herben, aſeetiſch Dürren und Gebeugten zur Folge haben
müßte. Der Reſpect hält feſt, was nach §. 456 aus der ganzen An-
ſchauungsweiſe an ſich ſchon fließt.

γ.
Ausgang.
§. 464.

Die höchſte Blüthe dieſes Ideals iſt auch ſein Ende. Freiere und aus-
gedehntere Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt, der Landſchaft, des menſch-
lichen Lebens in unbefangener und heiterer Sinnlichkeit, in tüchtiger Selbſtändigkeit
des Daſeins und Wirkens für rein weltliche Zwecke, harmoniſche Darſtellung
dieſer neu eröffneten ſowie der früheren Sphären in fließender Anmuth der
Form, wodurch der Typus überwunden und zugleich die taſtend ſehende Phan-

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[497/0211] Deutſche ſeinen Stoff ſubjectiv vergeiſtigt und pſychologiſch durchſichtig macht. Dieſe Durchdringung iſt freilich keine umfaſſende; Stellen, voll ſtoffartiger ermüdender Maſſe ziehen ſich dazwiſchen bis zur Pein aufrei- bender langer Weile. An freier Herausarbeitung der Herzenstiefe in die Anmuth der Form ſteht Gottfried von Straßburg dem Geiſte der italieniſchen Maler näher, übrigens bleibt, vorzüglich in der maleriſchen Phantaſie, das Leuchten des Ausdrucks durch hartkantige und ſchwerfällige Formen dem deutſchen Geiſte eigen. Man hat dieſe Formen kurzweg als Natura- liſmus bezeichnet, allein ihr Grund iſt die Berechtigung der Individualität (vergl. 454) und man kann ſie darum vielmehr gerade idealiſtiſch nen- nen: die harte Selbſtändigkeit vom Ausdruck der Idee durchdrungen. Wo ſich aber jene gegen dieſe empört, da iſt der ſchon erwähnte tiefere Griff in das furchtbar oder komiſch Häßliche gegeben. Wie jedoch die dichtende Phan- taſie in ſchwere Maſſenhaftigkeit, ſo geräth die bildende allerdings, wo ihr das Band ausgeht, auch in rohe Naturnachahmung; gilt einmal die Individualität, ſo liegt es näher, ſich in die Aufnahme der gemeinen und empiriſchen fallen zu laſſen. Am reinſten aber durchdringt ſich Ausdruck und Erſcheinung in den Schöpfungen der meſſenden Phantaſie. — Neben dieſen Naturaliſmus und jene Maſſenhaftigkeit fällt dann geſtaltloſe Tiefe durch Ueberſchuß des Gedankens, wie vorzüglich bei Wolfram, oder der Empfindung, wie bei den meiſten, und dieß gerade iſt der Fehler, wozu die deutſche Phantaſie ſpezifiſch geneigt iſt. 3. Der Typus iſt nicht förmliche Prieſterſatzung wie im Orient, aber nothwendige Scheue vor der Aufhebung des unfreien Scheins, den die volle Durchdringung, die Löſung der Formen von dem zaghaft Schüch- ternen, kindlich Herben, aſeetiſch Dürren und Gebeugten zur Folge haben müßte. Der Reſpect hält feſt, was nach §. 456 aus der ganzen An- ſchauungsweiſe an ſich ſchon fließt. γ. Ausgang. §. 464. Die höchſte Blüthe dieſes Ideals iſt auch ſein Ende. Freiere und aus- gedehntere Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt, der Landſchaft, des menſch- lichen Lebens in unbefangener und heiterer Sinnlichkeit, in tüchtiger Selbſtändigkeit des Daſeins und Wirkens für rein weltliche Zwecke, harmoniſche Darſtellung dieſer neu eröffneten ſowie der früheren Sphären in fließender Anmuth der Form, wodurch der Typus überwunden und zugleich die taſtend ſehende Phan-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/211>, abgerufen am 29.03.2024.