Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Sphäre die entsprechenden Stoffe ergreifen, wovon sofort die Rede sein
wird, so tragen sie ihre Empfindungsweise auch auf die mittelalterliche
Mythenwelt über, führen die Innigkeit als schöne Seele, den Geist der
religiösen Energie als eine strotzende Kraft heraus in die sinnliche Er-
scheinung und tilgen zwar nicht den Ueberschuß des Ausdrucks über seine
Form, wohl aber den letzten Rest widerstrebender Härte der letzteren.
Zugleich sind ebendarum sie die Ersten, bei denen sich die Phantasie des
tastenden Sehens ausbildet. Das Alterthum mußte schon in der Auflö-
sung begriffen sein, als es der Sinnlichkeit eine innigere subjective Ent-
zündung gab (§. 445); das Mittelalter schwindet, wie es die Innerlichkeit
in die plastische Form herausführt. Damit steht es in keinem Wider-
spruch, daß gerade auch die Italiener es vorzüglich sind, die der empfin-
denden Phantasie ihre eigentliche Form, den Fluß der Tonwelt, entgegen-
bringen; denn das Plastische, das zugleich seine Ausbildung findet, wird
allerdings als eine Wiedererweckung antiken Formsinns erscheinen, doch
aber selbst so den Charakter malerischer Bewegtheit, musikalischer Besee-
lung in sich aufnehmen müssen.

§. 465.

Die innere Auflösung auch dieses Ideals vollzieht sich nun wirklich auf1
doppeltem Wege. Die zweite Stoffwelt wird neben der ersten festgehalten,
entseelt sich aber zur Allegorie; der antike Mythus, zu dem die erwachte schöne
Sinnlichkeit zurückgegriffen hat, ist ohnedieß längst in solche versunken. Beide
werden bloße Vehikel. Zugleich aber wird aller Mythus vom eigenen Bewußt-2
sein der Zeit mit der eingedrungenen ursprünglichen Stoffwelt verglichen und
auf dem Wege des Komischen direct oder indirect aufgelöst. Endlich tritt die
Entmischung des Schönen auch hier vorherrschend in den Formen auf, welche
als Gattung jenseits der ästhetischen Grenze liegen (§. 446).

1. Die Gestalten des religiösen Kreises sind wohl noch geglaubt, denn
wir berühren hier den Schauplatz des Geistes noch nicht, der durch Um-
sturz der ganzen Grundlage auf doctrinärem Wege sie wenigstens auf
einen ganz engen Kreis reduzirt, aber mehr und mehr sieht man, daß es
dem Bewußtsein kein wahrer Ernst mehr mit ihnen ist, unbewußt sinken
sie zu Allegorien herab. Wie die Rittersage in solche versinkt, zeigt wohl
keine Erscheinung schlagender, als der Theuerdank, der schon ganz frostig
selbsterfundene Allegorien als Maschinerie einschiebt. Der antike Mythus
wird wohl mit einer neuen Wärme beseelt, Raphael (Farnesina), die
Venetianer beweisen es; aber diese Wärme bringt ihn keineswegs zum
wahren Leben. Er wird nur benützt, um schöne und glückliche Menschen

Sphäre die entſprechenden Stoffe ergreifen, wovon ſofort die Rede ſein
wird, ſo tragen ſie ihre Empfindungsweiſe auch auf die mittelalterliche
Mythenwelt über, führen die Innigkeit als ſchöne Seele, den Geiſt der
religiöſen Energie als eine ſtrotzende Kraft heraus in die ſinnliche Er-
ſcheinung und tilgen zwar nicht den Ueberſchuß des Ausdrucks über ſeine
Form, wohl aber den letzten Reſt widerſtrebender Härte der letzteren.
Zugleich ſind ebendarum ſie die Erſten, bei denen ſich die Phantaſie des
taſtenden Sehens ausbildet. Das Alterthum mußte ſchon in der Auflö-
ſung begriffen ſein, als es der Sinnlichkeit eine innigere ſubjective Ent-
zündung gab (§. 445); das Mittelalter ſchwindet, wie es die Innerlichkeit
in die plaſtiſche Form herausführt. Damit ſteht es in keinem Wider-
ſpruch, daß gerade auch die Italiener es vorzüglich ſind, die der empfin-
denden Phantaſie ihre eigentliche Form, den Fluß der Tonwelt, entgegen-
bringen; denn das Plaſtiſche, das zugleich ſeine Ausbildung findet, wird
allerdings als eine Wiedererweckung antiken Formſinns erſcheinen, doch
aber ſelbſt ſo den Charakter maleriſcher Bewegtheit, muſikaliſcher Beſee-
lung in ſich aufnehmen müſſen.

§. 465.

Die innere Auflöſung auch dieſes Ideals vollzieht ſich nun wirklich auf1
doppeltem Wege. Die zweite Stoffwelt wird neben der erſten feſtgehalten,
entſeelt ſich aber zur Allegorie; der antike Mythus, zu dem die erwachte ſchöne
Sinnlichkeit zurückgegriffen hat, iſt ohnedieß längſt in ſolche verſunken. Beide
werden bloße Vehikel. Zugleich aber wird aller Mythus vom eigenen Bewußt-2
ſein der Zeit mit der eingedrungenen urſprünglichen Stoffwelt verglichen und
auf dem Wege des Komiſchen direct oder indirect aufgelöst. Endlich tritt die
Entmiſchung des Schönen auch hier vorherrſchend in den Formen auf, welche
als Gattung jenſeits der äſthetiſchen Grenze liegen (§. 446).

1. Die Geſtalten des religiöſen Kreiſes ſind wohl noch geglaubt, denn
wir berühren hier den Schauplatz des Geiſtes noch nicht, der durch Um-
ſturz der ganzen Grundlage auf doctrinärem Wege ſie wenigſtens auf
einen ganz engen Kreis reduzirt, aber mehr und mehr ſieht man, daß es
dem Bewußtſein kein wahrer Ernſt mehr mit ihnen iſt, unbewußt ſinken
ſie zu Allegorien herab. Wie die Ritterſage in ſolche verſinkt, zeigt wohl
keine Erſcheinung ſchlagender, als der Theuerdank, der ſchon ganz froſtig
ſelbſterfundene Allegorien als Maſchinerie einſchiebt. Der antike Mythus
wird wohl mit einer neuen Wärme beſeelt, Raphael (Farneſina), die
Venetianer beweiſen es; aber dieſe Wärme bringt ihn keineswegs zum
wahren Leben. Er wird nur benützt, um ſchöne und glückliche Menſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0213" n="499"/>
Sphäre die ent&#x017F;prechenden Stoffe ergreifen, wovon &#x017F;ofort die Rede &#x017F;ein<lb/>
wird, &#x017F;o tragen &#x017F;ie ihre Empfindungswei&#x017F;e auch auf die mittelalterliche<lb/>
Mythenwelt über, führen die Innigkeit als &#x017F;chöne Seele, den Gei&#x017F;t der<lb/>
religiö&#x017F;en Energie als eine &#x017F;trotzende Kraft heraus in die &#x017F;innliche Er-<lb/>
&#x017F;cheinung und tilgen zwar nicht den Ueber&#x017F;chuß des Ausdrucks über &#x017F;eine<lb/>
Form, wohl aber den letzten Re&#x017F;t wider&#x017F;trebender Härte der letzteren.<lb/>
Zugleich &#x017F;ind ebendarum &#x017F;ie die Er&#x017F;ten, bei denen &#x017F;ich die Phanta&#x017F;ie des<lb/>
ta&#x017F;tenden Sehens ausbildet. Das Alterthum mußte &#x017F;chon in der Auflö-<lb/>
&#x017F;ung begriffen &#x017F;ein, als es der Sinnlichkeit eine innigere &#x017F;ubjective Ent-<lb/>
zündung gab (§. 445); das Mittelalter &#x017F;chwindet, wie es die Innerlichkeit<lb/>
in die pla&#x017F;ti&#x017F;che Form herausführt. Damit &#x017F;teht es in keinem Wider-<lb/>
&#x017F;pruch, daß gerade auch die Italiener es vorzüglich &#x017F;ind, die der empfin-<lb/>
denden Phanta&#x017F;ie ihre eigentliche Form, den Fluß der Tonwelt, entgegen-<lb/>
bringen; denn das Pla&#x017F;ti&#x017F;che, das zugleich &#x017F;eine Ausbildung findet, wird<lb/>
allerdings als eine Wiedererweckung antiken Form&#x017F;inns er&#x017F;cheinen, doch<lb/>
aber &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o den Charakter maleri&#x017F;cher Bewegtheit, mu&#x017F;ikali&#x017F;cher Be&#x017F;ee-<lb/>
lung in &#x017F;ich aufnehmen mü&#x017F;&#x017F;en.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 465.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Die innere Auflö&#x017F;ung auch die&#x017F;es Ideals vollzieht &#x017F;ich nun wirklich auf<note place="right">1</note><lb/>
doppeltem Wege. Die zweite Stoffwelt wird <hi rendition="#g">neben</hi> der er&#x017F;ten fe&#x017F;tgehalten,<lb/>
ent&#x017F;eelt &#x017F;ich aber zur Allegorie; der antike Mythus, zu dem die erwachte &#x017F;chöne<lb/>
Sinnlichkeit zurückgegriffen hat, i&#x017F;t ohnedieß läng&#x017F;t in &#x017F;olche ver&#x017F;unken. Beide<lb/>
werden bloße Vehikel. Zugleich aber wird aller Mythus vom eigenen Bewußt-<note place="right">2</note><lb/>
&#x017F;ein der Zeit mit der eingedrungenen ur&#x017F;prünglichen Stoffwelt verglichen und<lb/>
auf dem Wege des Komi&#x017F;chen direct oder indirect aufgelöst. Endlich tritt die<lb/>
Entmi&#x017F;chung des Schönen auch hier vorherr&#x017F;chend in den Formen auf, welche<lb/>
als Gattung jen&#x017F;eits der ä&#x017F;theti&#x017F;chen Grenze liegen (§. 446).</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Die Ge&#x017F;talten des religiö&#x017F;en Krei&#x017F;es &#x017F;ind wohl noch geglaubt, denn<lb/>
wir berühren hier den Schauplatz des Gei&#x017F;tes noch nicht, der durch Um-<lb/>
&#x017F;turz der ganzen Grundlage auf doctrinärem Wege &#x017F;ie wenig&#x017F;tens auf<lb/>
einen ganz engen Kreis reduzirt, aber mehr und mehr &#x017F;ieht man, daß es<lb/>
dem Bewußt&#x017F;ein kein wahrer Ern&#x017F;t mehr mit ihnen i&#x017F;t, unbewußt &#x017F;inken<lb/>
&#x017F;ie zu Allegorien herab. Wie die Ritter&#x017F;age in &#x017F;olche ver&#x017F;inkt, zeigt wohl<lb/>
keine Er&#x017F;cheinung &#x017F;chlagender, als der Theuerdank, der &#x017F;chon ganz fro&#x017F;tig<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;terfundene Allegorien als Ma&#x017F;chinerie ein&#x017F;chiebt. Der antike Mythus<lb/>
wird wohl mit einer neuen Wärme be&#x017F;eelt, Raphael (Farne&#x017F;ina), die<lb/>
Venetianer bewei&#x017F;en es; aber die&#x017F;e Wärme bringt ihn keineswegs zum<lb/>
wahren Leben. Er wird nur benützt, um &#x017F;chöne und glückliche Men&#x017F;chen<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[499/0213] Sphäre die entſprechenden Stoffe ergreifen, wovon ſofort die Rede ſein wird, ſo tragen ſie ihre Empfindungsweiſe auch auf die mittelalterliche Mythenwelt über, führen die Innigkeit als ſchöne Seele, den Geiſt der religiöſen Energie als eine ſtrotzende Kraft heraus in die ſinnliche Er- ſcheinung und tilgen zwar nicht den Ueberſchuß des Ausdrucks über ſeine Form, wohl aber den letzten Reſt widerſtrebender Härte der letzteren. Zugleich ſind ebendarum ſie die Erſten, bei denen ſich die Phantaſie des taſtenden Sehens ausbildet. Das Alterthum mußte ſchon in der Auflö- ſung begriffen ſein, als es der Sinnlichkeit eine innigere ſubjective Ent- zündung gab (§. 445); das Mittelalter ſchwindet, wie es die Innerlichkeit in die plaſtiſche Form herausführt. Damit ſteht es in keinem Wider- ſpruch, daß gerade auch die Italiener es vorzüglich ſind, die der empfin- denden Phantaſie ihre eigentliche Form, den Fluß der Tonwelt, entgegen- bringen; denn das Plaſtiſche, das zugleich ſeine Ausbildung findet, wird allerdings als eine Wiedererweckung antiken Formſinns erſcheinen, doch aber ſelbſt ſo den Charakter maleriſcher Bewegtheit, muſikaliſcher Beſee- lung in ſich aufnehmen müſſen. §. 465. Die innere Auflöſung auch dieſes Ideals vollzieht ſich nun wirklich auf doppeltem Wege. Die zweite Stoffwelt wird neben der erſten feſtgehalten, entſeelt ſich aber zur Allegorie; der antike Mythus, zu dem die erwachte ſchöne Sinnlichkeit zurückgegriffen hat, iſt ohnedieß längſt in ſolche verſunken. Beide werden bloße Vehikel. Zugleich aber wird aller Mythus vom eigenen Bewußt- ſein der Zeit mit der eingedrungenen urſprünglichen Stoffwelt verglichen und auf dem Wege des Komiſchen direct oder indirect aufgelöst. Endlich tritt die Entmiſchung des Schönen auch hier vorherrſchend in den Formen auf, welche als Gattung jenſeits der äſthetiſchen Grenze liegen (§. 446). 1. Die Geſtalten des religiöſen Kreiſes ſind wohl noch geglaubt, denn wir berühren hier den Schauplatz des Geiſtes noch nicht, der durch Um- ſturz der ganzen Grundlage auf doctrinärem Wege ſie wenigſtens auf einen ganz engen Kreis reduzirt, aber mehr und mehr ſieht man, daß es dem Bewußtſein kein wahrer Ernſt mehr mit ihnen iſt, unbewußt ſinken ſie zu Allegorien herab. Wie die Ritterſage in ſolche verſinkt, zeigt wohl keine Erſcheinung ſchlagender, als der Theuerdank, der ſchon ganz froſtig ſelbſterfundene Allegorien als Maſchinerie einſchiebt. Der antike Mythus wird wohl mit einer neuen Wärme beſeelt, Raphael (Farneſina), die Venetianer beweiſen es; aber dieſe Wärme bringt ihn keineswegs zum wahren Leben. Er wird nur benützt, um ſchöne und glückliche Menſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/213
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/213>, abgerufen am 20.04.2024.