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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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a.
Der Uebergang der Phantasie zur Kunst.
§. 487.

Die Phantasie hebt zwar die Mängel des Naturschönen auf, aber in
rein subjectiver Form, d. h. in einem Bilde, das nur dem Innern des durch
Phantasie thätigen Subjects angehört. Das Schöne ist aber wesentlich Erschei-
nung (§. 13. 14.), also für ein anschauendes Subject (§. 70). Diese Schuld
der Phantasie ist näher eine Schuld (§. 416--424) der besondern Phantasie
(§. 384 ff.) an die allgemeine (§. 379 ff.). Die Phantasie selbst, wie sie noch
innerlich eingeschlossen ist, fühlt diesen Mangel als Drang zur Aufschließung.

Die Ueberschrift vertauscht den Ausdruck: (objective, subjective)
Existenz, der im zweiten Theile des Systems auftritt, mit dem Ausdruck:
Wirklichkeit, der ein ganzes und volles Dasein im Unterschied von dem
halben und seiner Ergänzung wartenden bezeichnet. Das Schöne als
Schöpfung der Phantasie nun ist allerdings die Ergänzung des in der
Natur vorgefundenen Schönen, das wir, nachdem es sich als ein Schein
aufgelöst hat, nur der Gleichmäßigkeit der Terminologie wegen noch ein
Schönes nennen dürfen; ja es ist eben aus diesem Grunde mehr, als
bloße Ergänzung, es ist eine. Hereinziehung, ein Aufsaugen des Letzteren
in den Geist. Nun dürste ein Erzeugniß des Geistes, der frei aus sich
thätig ist, allerdings keine bloße "Existenz" mehr genannt werden, wenn
diese freie Thätigkeit in dem Erzeugniß, wie es bis jetzt vor uns tritt,
vollendet wäre, denn das vollendete Erzeugniß steht auf eigenen, festen
Füßen, ist daher ein Erfülltes, ein Wirkliches. Wir sollen aber eben jetzt
das Erzeugniß der Phantasie, wie es erst als inneres Bild im Geiste
lebt, selbst noch als ein halbes, darum auch unsicheres, bedürftiges kennen
lernen. Diese Halbheit, Einseitigkeit besteht nun zunächst darin, daß das
Phantasiebild nur dem Innern dessen angehört, der es erzeugt hat. Der
§. weist auf die Definition des Schönen im ersten Theil §. 13. 14. und
auf die Lehre vom subjectiven Eindruck des Schönen §. 70 ff. zurück,
welche das Schöne wesentlich als Erscheinung bestimmen und aus diesem
Begriff einfach ableiten, daß das anschauende Subject in der Definition
des Schönen wesentlich mitgesetzt ist. Das anschauende Subject ist hier
natürlich als Vielheit von Subjecten, ja als Gesammtsubject der Mensch-
heit zu verstehen. Das Schöne will genossen sein von möglichst vielen,
von immer neuen Zuschauern; hier ist keine Grenze, sein Ausstrahlen ist

1*
a.
Der Uebergang der Phantaſie zur Kunſt.
§. 487.

Die Phantaſie hebt zwar die Mängel des Naturſchönen auf, aber in
rein ſubjectiver Form, d. h. in einem Bilde, das nur dem Innern des durch
Phantaſie thätigen Subjects angehört. Das Schöne iſt aber weſentlich Erſchei-
nung (§. 13. 14.), alſo für ein anſchauendes Subject (§. 70). Dieſe Schuld
der Phantaſie iſt näher eine Schuld (§. 416—424) der beſondern Phantaſie
(§. 384 ff.) an die allgemeine (§. 379 ff.). Die Phantaſie ſelbſt, wie ſie noch
innerlich eingeſchloſſen iſt, fühlt dieſen Mangel als Drang zur Aufſchließung.

Die Ueberſchrift vertauſcht den Ausdruck: (objective, ſubjective)
Exiſtenz, der im zweiten Theile des Syſtems auftritt, mit dem Ausdruck:
Wirklichkeit, der ein ganzes und volles Daſein im Unterſchied von dem
halben und ſeiner Ergänzung wartenden bezeichnet. Das Schöne als
Schöpfung der Phantaſie nun iſt allerdings die Ergänzung des in der
Natur vorgefundenen Schönen, das wir, nachdem es ſich als ein Schein
aufgelöst hat, nur der Gleichmäßigkeit der Terminologie wegen noch ein
Schönes nennen dürfen; ja es iſt eben aus dieſem Grunde mehr, als
bloße Ergänzung, es iſt eine. Hereinziehung, ein Aufſaugen des Letzteren
in den Geiſt. Nun dürſte ein Erzeugniß des Geiſtes, der frei aus ſich
thätig iſt, allerdings keine bloße „Exiſtenz“ mehr genannt werden, wenn
dieſe freie Thätigkeit in dem Erzeugniß, wie es bis jetzt vor uns tritt,
vollendet wäre, denn das vollendete Erzeugniß ſteht auf eigenen, feſten
Füßen, iſt daher ein Erfülltes, ein Wirkliches. Wir ſollen aber eben jetzt
das Erzeugniß der Phantaſie, wie es erſt als inneres Bild im Geiſte
lebt, ſelbſt noch als ein halbes, darum auch unſicheres, bedürftiges kennen
lernen. Dieſe Halbheit, Einſeitigkeit beſteht nun zunächſt darin, daß das
Phantaſiebild nur dem Innern deſſen angehört, der es erzeugt hat. Der
§. weist auf die Definition des Schönen im erſten Theil §. 13. 14. und
auf die Lehre vom ſubjectiven Eindruck des Schönen §. 70 ff. zurück,
welche das Schöne weſentlich als Erſcheinung beſtimmen und aus dieſem
Begriff einfach ableiten, daß das anſchauende Subject in der Definition
des Schönen weſentlich mitgeſetzt iſt. Das anſchauende Subject iſt hier
natürlich als Vielheit von Subjecten, ja als Geſammtſubject der Menſch-
heit zu verſtehen. Das Schöne will genoſſen ſein von möglichſt vielen,
von immer neuen Zuſchauern; hier iſt keine Grenze, ſein Ausſtrahlen iſt

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[3/0015] a. Der Uebergang der Phantaſie zur Kunſt. §. 487. Die Phantaſie hebt zwar die Mängel des Naturſchönen auf, aber in rein ſubjectiver Form, d. h. in einem Bilde, das nur dem Innern des durch Phantaſie thätigen Subjects angehört. Das Schöne iſt aber weſentlich Erſchei- nung (§. 13. 14.), alſo für ein anſchauendes Subject (§. 70). Dieſe Schuld der Phantaſie iſt näher eine Schuld (§. 416—424) der beſondern Phantaſie (§. 384 ff.) an die allgemeine (§. 379 ff.). Die Phantaſie ſelbſt, wie ſie noch innerlich eingeſchloſſen iſt, fühlt dieſen Mangel als Drang zur Aufſchließung. Die Ueberſchrift vertauſcht den Ausdruck: (objective, ſubjective) Exiſtenz, der im zweiten Theile des Syſtems auftritt, mit dem Ausdruck: Wirklichkeit, der ein ganzes und volles Daſein im Unterſchied von dem halben und ſeiner Ergänzung wartenden bezeichnet. Das Schöne als Schöpfung der Phantaſie nun iſt allerdings die Ergänzung des in der Natur vorgefundenen Schönen, das wir, nachdem es ſich als ein Schein aufgelöst hat, nur der Gleichmäßigkeit der Terminologie wegen noch ein Schönes nennen dürfen; ja es iſt eben aus dieſem Grunde mehr, als bloße Ergänzung, es iſt eine. Hereinziehung, ein Aufſaugen des Letzteren in den Geiſt. Nun dürſte ein Erzeugniß des Geiſtes, der frei aus ſich thätig iſt, allerdings keine bloße „Exiſtenz“ mehr genannt werden, wenn dieſe freie Thätigkeit in dem Erzeugniß, wie es bis jetzt vor uns tritt, vollendet wäre, denn das vollendete Erzeugniß ſteht auf eigenen, feſten Füßen, iſt daher ein Erfülltes, ein Wirkliches. Wir ſollen aber eben jetzt das Erzeugniß der Phantaſie, wie es erſt als inneres Bild im Geiſte lebt, ſelbſt noch als ein halbes, darum auch unſicheres, bedürftiges kennen lernen. Dieſe Halbheit, Einſeitigkeit beſteht nun zunächſt darin, daß das Phantaſiebild nur dem Innern deſſen angehört, der es erzeugt hat. Der §. weist auf die Definition des Schönen im erſten Theil §. 13. 14. und auf die Lehre vom ſubjectiven Eindruck des Schönen §. 70 ff. zurück, welche das Schöne weſentlich als Erſcheinung beſtimmen und aus dieſem Begriff einfach ableiten, daß das anſchauende Subject in der Definition des Schönen weſentlich mitgeſetzt iſt. Das anſchauende Subject iſt hier natürlich als Vielheit von Subjecten, ja als Geſammtſubject der Menſch- heit zu verſtehen. Das Schöne will genoſſen ſein von möglichſt vielen, von immer neuen Zuſchauern; hier iſt keine Grenze, ſein Ausſtrahlen iſt 1*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/15>, abgerufen am 29.03.2024.