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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Thätigkeit, als ein ganz flüßiger, vor Leichtigkeit kaum merklicher Ueber-
gang. Allein diese Pforte zur Praxis wird nicht ohne ein strenges Halt!
passirt. Der sinnliche Stoff wird nur durch ein sinnliches Thun bezwun-
gen. Es scheint, das Vermögen auch dazu müsse in der Phantasie, als
deren Grundlage wir ja eine lebendige, scharfe Sinnlichkeit forderten
(§. 385. 392.), schon mitenthalten seyn; die Phantasie ist ja eine geistige
Naturkraft, derselbe Nerv, dessen geheimnißvolle, höhere Thätigkeit das
innere Bilden vermittelt, scheint auch der Hebel der entsprechenden äußern
Thätigkeit zu seyn, so daß z. B. dem Maler sein inneres Gemälde
ungehemmt in die Fingerspitzen, die den Griffel und Pinsel führen,
übergienge, auf die Fläche von Holz oder Leinwand gleichsam nur her-
ausflöße, wie es durch das Auge hineingeflossen ist in den Schacht des
Geistes, der das Angeschaute zur reinen Form umschuf. Die Technik der
großen Künstler erscheint durchaus als eine äußere Geschicklichkeit, deren
Geheimniß in dieser dunkeln Mitte zwischen Geist und Hand sitzt; sie
läßt sich, nachdem sie im fertigen Werke niedergelegt ist, nachahmen;
allein theils fehlt in der Nachahmung immer ein gewisser letzter Druck,
Strich, Punct, der unbedeutend scheint und doch dem Ganzen seinen
Charakter gibt, theils ist sie, so weit sie gelingt, zu etwas Todtem gewor-
den, dem das Band mit seiner innern Quelle gebrochen und das daher
die Bedeutung verloren hat. So nützt es z. B. nichts, das Geheimniß
des venetianischen Colorits errathen zu haben und nachzuahmen, denn
unnachahmlich ist jene innere Festlichkeit und Freudigkeit der Phantasie,
welche zugleich der Instinct war, der jenes Colorit erfand. Diese Bemer-
kung führt zu dem innern Grunde der Schwierigkeit in dem vorliegenden
Uebergange: ebendarum, weil in diesem Gebiete der Geist in Naturform
thätig ist, herrscht hier das Gesetz unendlicher Trennbarkeit des im Begriff
Zusammengehörigen, welches durch die Natur geht. Die Psychologie hat
mit der Physiologie noch nicht abgemacht, welches die Qualität des
Gehirn- und Nervenlebens im ästhetisch begabten Individuum ist, sie wird
es auch nicht abmachen, und wie sie der Natur nicht vorschreiben kann,
diese geheimnißvolle Einheit mit dem Geiste ihr zu enträthseln, so hat sie
auch die Thatsache einfach hinzunehmen, daß der Nerv, der die Anschau-
ung in jener Intensität aufnimmt, welche dem Genie eigen ist, nicht
nothwendig, daher auch nicht immer dem Willenszuge von innen nach
außen, dem Drange zur Darstellung ein williges Organ ist. Es gibt
Naturen, die innerlich Schönes erzeugen und es nicht wiederzugeben
vermögen; die Wissenschaft kann an dieser Thatsache der Trennbarkeit
von organischen Bedingungen, die nach dem Begriffe ungetrennt demselben
Geiste angehören sollten, nichts verändern und auch nichts weiter über
sie aussagen, als daß sie besteht. Daher tritt hier die Antinomie ein,

Thätigkeit, als ein ganz flüßiger, vor Leichtigkeit kaum merklicher Ueber-
gang. Allein dieſe Pforte zur Praxis wird nicht ohne ein ſtrenges Halt!
paſſirt. Der ſinnliche Stoff wird nur durch ein ſinnliches Thun bezwun-
gen. Es ſcheint, das Vermögen auch dazu müſſe in der Phantaſie, als
deren Grundlage wir ja eine lebendige, ſcharfe Sinnlichkeit forderten
(§. 385. 392.), ſchon mitenthalten ſeyn; die Phantaſie iſt ja eine geiſtige
Naturkraft, derſelbe Nerv, deſſen geheimnißvolle, höhere Thätigkeit das
innere Bilden vermittelt, ſcheint auch der Hebel der entſprechenden äußern
Thätigkeit zu ſeyn, ſo daß z. B. dem Maler ſein inneres Gemälde
ungehemmt in die Fingerſpitzen, die den Griffel und Pinſel führen,
übergienge, auf die Fläche von Holz oder Leinwand gleichſam nur her-
ausflöße, wie es durch das Auge hineingefloſſen iſt in den Schacht des
Geiſtes, der das Angeſchaute zur reinen Form umſchuf. Die Technik der
großen Künſtler erſcheint durchaus als eine äußere Geſchicklichkeit, deren
Geheimniß in dieſer dunkeln Mitte zwiſchen Geiſt und Hand ſitzt; ſie
läßt ſich, nachdem ſie im fertigen Werke niedergelegt iſt, nachahmen;
allein theils fehlt in der Nachahmung immer ein gewiſſer letzter Druck,
Strich, Punct, der unbedeutend ſcheint und doch dem Ganzen ſeinen
Charakter gibt, theils iſt ſie, ſo weit ſie gelingt, zu etwas Todtem gewor-
den, dem das Band mit ſeiner innern Quelle gebrochen und das daher
die Bedeutung verloren hat. So nützt es z. B. nichts, das Geheimniß
des venetianiſchen Colorits errathen zu haben und nachzuahmen, denn
unnachahmlich iſt jene innere Feſtlichkeit und Freudigkeit der Phantaſie,
welche zugleich der Inſtinct war, der jenes Colorit erfand. Dieſe Bemer-
kung führt zu dem innern Grunde der Schwierigkeit in dem vorliegenden
Uebergange: ebendarum, weil in dieſem Gebiete der Geiſt in Naturform
thätig iſt, herrſcht hier das Geſetz unendlicher Trennbarkeit des im Begriff
Zuſammengehörigen, welches durch die Natur geht. Die Pſychologie hat
mit der Phyſiologie noch nicht abgemacht, welches die Qualität des
Gehirn- und Nervenlebens im äſthetiſch begabten Individuum iſt, ſie wird
es auch nicht abmachen, und wie ſie der Natur nicht vorſchreiben kann,
dieſe geheimnißvolle Einheit mit dem Geiſte ihr zu enträthſeln, ſo hat ſie
auch die Thatſache einfach hinzunehmen, daß der Nerv, der die Anſchau-
ung in jener Intenſität aufnimmt, welche dem Genie eigen iſt, nicht
nothwendig, daher auch nicht immer dem Willenszuge von innen nach
außen, dem Drange zur Darſtellung ein williges Organ iſt. Es gibt
Naturen, die innerlich Schönes erzeugen und es nicht wiederzugeben
vermögen; die Wiſſenſchaft kann an dieſer Thatſache der Trennbarkeit
von organiſchen Bedingungen, die nach dem Begriffe ungetrennt demſelben
Geiſte angehören ſollten, nichts verändern und auch nichts weiter über
ſie ausſagen, als daß ſie beſteht. Daher tritt hier die Antinomie ein,

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[11/0023] Thätigkeit, als ein ganz flüßiger, vor Leichtigkeit kaum merklicher Ueber- gang. Allein dieſe Pforte zur Praxis wird nicht ohne ein ſtrenges Halt! paſſirt. Der ſinnliche Stoff wird nur durch ein ſinnliches Thun bezwun- gen. Es ſcheint, das Vermögen auch dazu müſſe in der Phantaſie, als deren Grundlage wir ja eine lebendige, ſcharfe Sinnlichkeit forderten (§. 385. 392.), ſchon mitenthalten ſeyn; die Phantaſie iſt ja eine geiſtige Naturkraft, derſelbe Nerv, deſſen geheimnißvolle, höhere Thätigkeit das innere Bilden vermittelt, ſcheint auch der Hebel der entſprechenden äußern Thätigkeit zu ſeyn, ſo daß z. B. dem Maler ſein inneres Gemälde ungehemmt in die Fingerſpitzen, die den Griffel und Pinſel führen, übergienge, auf die Fläche von Holz oder Leinwand gleichſam nur her- ausflöße, wie es durch das Auge hineingefloſſen iſt in den Schacht des Geiſtes, der das Angeſchaute zur reinen Form umſchuf. Die Technik der großen Künſtler erſcheint durchaus als eine äußere Geſchicklichkeit, deren Geheimniß in dieſer dunkeln Mitte zwiſchen Geiſt und Hand ſitzt; ſie läßt ſich, nachdem ſie im fertigen Werke niedergelegt iſt, nachahmen; allein theils fehlt in der Nachahmung immer ein gewiſſer letzter Druck, Strich, Punct, der unbedeutend ſcheint und doch dem Ganzen ſeinen Charakter gibt, theils iſt ſie, ſo weit ſie gelingt, zu etwas Todtem gewor- den, dem das Band mit ſeiner innern Quelle gebrochen und das daher die Bedeutung verloren hat. So nützt es z. B. nichts, das Geheimniß des venetianiſchen Colorits errathen zu haben und nachzuahmen, denn unnachahmlich iſt jene innere Feſtlichkeit und Freudigkeit der Phantaſie, welche zugleich der Inſtinct war, der jenes Colorit erfand. Dieſe Bemer- kung führt zu dem innern Grunde der Schwierigkeit in dem vorliegenden Uebergange: ebendarum, weil in dieſem Gebiete der Geiſt in Naturform thätig iſt, herrſcht hier das Geſetz unendlicher Trennbarkeit des im Begriff Zuſammengehörigen, welches durch die Natur geht. Die Pſychologie hat mit der Phyſiologie noch nicht abgemacht, welches die Qualität des Gehirn- und Nervenlebens im äſthetiſch begabten Individuum iſt, ſie wird es auch nicht abmachen, und wie ſie der Natur nicht vorſchreiben kann, dieſe geheimnißvolle Einheit mit dem Geiſte ihr zu enträthſeln, ſo hat ſie auch die Thatſache einfach hinzunehmen, daß der Nerv, der die Anſchau- ung in jener Intenſität aufnimmt, welche dem Genie eigen iſt, nicht nothwendig, daher auch nicht immer dem Willenszuge von innen nach außen, dem Drange zur Darſtellung ein williges Organ iſt. Es gibt Naturen, die innerlich Schönes erzeugen und es nicht wiederzugeben vermögen; die Wiſſenſchaft kann an dieſer Thatſache der Trennbarkeit von organiſchen Bedingungen, die nach dem Begriffe ungetrennt demſelben Geiſte angehören ſollten, nichts verändern und auch nichts weiter über ſie ausſagen, als daß ſie beſteht. Daher tritt hier die Antinomie ein,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/23>, abgerufen am 24.04.2024.