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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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die als Keime im Stoffe liegen, in dem einen Material dürftiger, in dem
andern völliger sich entwickeln lassen, in dem einen in dieser, im andern
in jener Richtung gesucht werden müssen. Mehr darüber in dem
Abschnitt über die Technik. Erweist sich nun in dem Prüfungs-Acte das
Ganze des ergriffenen ästhetischen Stoffs als eine Fundgrube von Schön-
heiten, so tritt weiter das zweite Moment, das Moment des Besondern,
ein: der Künstler erkennt, wie auf einzelnen Puncten des Ganzen gewisse
besondere Schönheiten sich wie von selbst darbieten; dieß nennt man Motiv
im engeren Sinne. So z. B. die Gruppe von Vater und Sohn in
Raphaels Constantinsschlacht, oder die Mutter, die ihr Kind erstochen hat
und indem sie es verzweifelnd noch anschaut, sich nicht entschließen kann,
sich durch die entsetzliche Speise vom Hungeriode zu retten, in Kaulbachs
Zerstörung von Jerusalem. Endlich zieht sich der Begriff des Motivs
auf eine engste Bedeutung zusammen, indem innerhalb eines solchen Theils
des Ganzen das schon Gefundene benützt wird, um schöne Formen, Linien,
Töne u. s. w. ganz im Einzelnen zu entwickeln. Selbst eine einzelne
Form z. B. im Ornament heißt Motiv in diesem Sinn: ich führe einen
Blumenstengel in einer gewissen Wendung fort und finde so von selbst
einen Punkt, wo er sich naturgemäß spaltet, weitere anziehende Bildungen
entwickelt, oder ich benütze den oder jenen durch den Bauzweck geforderten
Theil eines Gebäudes, ein passendes Ornament anzubringen; so wird den
Griechen die Säule und der Druck der Last, die auf ihr liegt, zum Motiv
des Capitäls u. s. w. -- Unter diesem Standpuncte der Fruchtbarkeit für
die wirkliche Darstellung betrachtet legt sich dann das innere Bild dem
Künstler an das Herz, es wird ihm ein Anliegen und dieses Anliegen ein
Beweggrund, daß sich das Bild durch seine Hand zur Objectivität durch-
arbeite. Ist diese Willensregung Entschluß geworden, so nennen wir das
innere Bild Conception. Conception verhält sich zu dem blos innern
Erzeugen des Phantasie-Bildes wie Empfängniß zur Liebe: das Bild,
das zur Conception geworden, hat gefaßt, nämlich den Willen, oder um-
gekehrt, der Wille hat das Bild gefaßt, befruchtet im Acte des Entschlusses,
daß es mit Nothwendigkeit wächst, um an's Tageslicht zu treten; kurz,
Conception heißt: das innere Urbild des Künstlers mit dem Entschluße,
es darzustellen (vergl. Schleiermacher a. a. o. S. 262).

2. Soll der Künstler sein inneres Bild prüfen können, ob es
reif sey, in die Objectivität überzugehen, so muß er die Stelle des
Zuschauers einnehmen und es wie mit fremden Augen ansehen. Dazu
genügt aber jetzt die erste, rein innere Gegenüberstellung (§. 389) nicht
mehr und ebenso wenig jener weitere Act, durch den der Künstler sein
Inneres zu einer Welt von Zuschauern erweitert (§. 487 Anm.); er muß
vielmehr sein Bild in die Bedingungen des Raums und der Zeit hinaus-

die als Keime im Stoffe liegen, in dem einen Material dürftiger, in dem
andern völliger ſich entwickeln laſſen, in dem einen in dieſer, im andern
in jener Richtung geſucht werden müſſen. Mehr darüber in dem
Abſchnitt über die Technik. Erweist ſich nun in dem Prüfungs-Acte das
Ganze des ergriffenen äſthetiſchen Stoffs als eine Fundgrube von Schön-
heiten, ſo tritt weiter das zweite Moment, das Moment des Beſondern,
ein: der Künſtler erkennt, wie auf einzelnen Puncten des Ganzen gewiſſe
beſondere Schönheiten ſich wie von ſelbſt darbieten; dieß nennt man Motiv
im engeren Sinne. So z. B. die Gruppe von Vater und Sohn in
Raphaels Conſtantinsſchlacht, oder die Mutter, die ihr Kind erſtochen hat
und indem ſie es verzweifelnd noch anſchaut, ſich nicht entſchließen kann,
ſich durch die entſetzliche Speiſe vom Hungeriode zu retten, in Kaulbachs
Zerſtörung von Jeruſalem. Endlich zieht ſich der Begriff des Motivs
auf eine engſte Bedeutung zuſammen, indem innerhalb eines ſolchen Theils
des Ganzen das ſchon Gefundene benützt wird, um ſchöne Formen, Linien,
Töne u. ſ. w. ganz im Einzelnen zu entwickeln. Selbſt eine einzelne
Form z. B. im Ornament heißt Motiv in dieſem Sinn: ich führe einen
Blumenſtengel in einer gewiſſen Wendung fort und finde ſo von ſelbſt
einen Punkt, wo er ſich naturgemäß ſpaltet, weitere anziehende Bildungen
entwickelt, oder ich benütze den oder jenen durch den Bauzweck geforderten
Theil eines Gebäudes, ein paſſendes Ornament anzubringen; ſo wird den
Griechen die Säule und der Druck der Laſt, die auf ihr liegt, zum Motiv
des Capitäls u. ſ. w. — Unter dieſem Standpuncte der Fruchtbarkeit für
die wirkliche Darſtellung betrachtet legt ſich dann das innere Bild dem
Künſtler an das Herz, es wird ihm ein Anliegen und dieſes Anliegen ein
Beweggrund, daß ſich das Bild durch ſeine Hand zur Objectivität durch-
arbeite. Iſt dieſe Willensregung Entſchluß geworden, ſo nennen wir das
innere Bild Conception. Conception verhält ſich zu dem blos innern
Erzeugen des Phantaſie-Bildes wie Empfängniß zur Liebe: das Bild,
das zur Conception geworden, hat gefaßt, nämlich den Willen, oder um-
gekehrt, der Wille hat das Bild gefaßt, befruchtet im Acte des Entſchluſſes,
daß es mit Nothwendigkeit wächst, um an’s Tageslicht zu treten; kurz,
Conception heißt: das innere Urbild des Künſtlers mit dem Entſchluße,
es darzuſtellen (vergl. Schleiermacher a. a. o. S. 262).

2. Soll der Künſtler ſein inneres Bild prüfen können, ob es
reif ſey, in die Objectivität überzugehen, ſo muß er die Stelle des
Zuſchauers einnehmen und es wie mit fremden Augen anſehen. Dazu
genügt aber jetzt die erſte, rein innere Gegenüberſtellung (§. 389) nicht
mehr und ebenſo wenig jener weitere Act, durch den der Künſtler ſein
Inneres zu einer Welt von Zuſchauern erweitert (§. 487 Anm.); er muß
vielmehr ſein Bild in die Bedingungen des Raums und der Zeit hinaus-

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[18/0030] die als Keime im Stoffe liegen, in dem einen Material dürftiger, in dem andern völliger ſich entwickeln laſſen, in dem einen in dieſer, im andern in jener Richtung geſucht werden müſſen. Mehr darüber in dem Abſchnitt über die Technik. Erweist ſich nun in dem Prüfungs-Acte das Ganze des ergriffenen äſthetiſchen Stoffs als eine Fundgrube von Schön- heiten, ſo tritt weiter das zweite Moment, das Moment des Beſondern, ein: der Künſtler erkennt, wie auf einzelnen Puncten des Ganzen gewiſſe beſondere Schönheiten ſich wie von ſelbſt darbieten; dieß nennt man Motiv im engeren Sinne. So z. B. die Gruppe von Vater und Sohn in Raphaels Conſtantinsſchlacht, oder die Mutter, die ihr Kind erſtochen hat und indem ſie es verzweifelnd noch anſchaut, ſich nicht entſchließen kann, ſich durch die entſetzliche Speiſe vom Hungeriode zu retten, in Kaulbachs Zerſtörung von Jeruſalem. Endlich zieht ſich der Begriff des Motivs auf eine engſte Bedeutung zuſammen, indem innerhalb eines ſolchen Theils des Ganzen das ſchon Gefundene benützt wird, um ſchöne Formen, Linien, Töne u. ſ. w. ganz im Einzelnen zu entwickeln. Selbſt eine einzelne Form z. B. im Ornament heißt Motiv in dieſem Sinn: ich führe einen Blumenſtengel in einer gewiſſen Wendung fort und finde ſo von ſelbſt einen Punkt, wo er ſich naturgemäß ſpaltet, weitere anziehende Bildungen entwickelt, oder ich benütze den oder jenen durch den Bauzweck geforderten Theil eines Gebäudes, ein paſſendes Ornament anzubringen; ſo wird den Griechen die Säule und der Druck der Laſt, die auf ihr liegt, zum Motiv des Capitäls u. ſ. w. — Unter dieſem Standpuncte der Fruchtbarkeit für die wirkliche Darſtellung betrachtet legt ſich dann das innere Bild dem Künſtler an das Herz, es wird ihm ein Anliegen und dieſes Anliegen ein Beweggrund, daß ſich das Bild durch ſeine Hand zur Objectivität durch- arbeite. Iſt dieſe Willensregung Entſchluß geworden, ſo nennen wir das innere Bild Conception. Conception verhält ſich zu dem blos innern Erzeugen des Phantaſie-Bildes wie Empfängniß zur Liebe: das Bild, das zur Conception geworden, hat gefaßt, nämlich den Willen, oder um- gekehrt, der Wille hat das Bild gefaßt, befruchtet im Acte des Entſchluſſes, daß es mit Nothwendigkeit wächst, um an’s Tageslicht zu treten; kurz, Conception heißt: das innere Urbild des Künſtlers mit dem Entſchluße, es darzuſtellen (vergl. Schleiermacher a. a. o. S. 262). 2. Soll der Künſtler ſein inneres Bild prüfen können, ob es reif ſey, in die Objectivität überzugehen, ſo muß er die Stelle des Zuſchauers einnehmen und es wie mit fremden Augen anſehen. Dazu genügt aber jetzt die erſte, rein innere Gegenüberſtellung (§. 389) nicht mehr und ebenſo wenig jener weitere Act, durch den der Künſtler ſein Inneres zu einer Welt von Zuſchauern erweitert (§. 487 Anm.); er muß vielmehr ſein Bild in die Bedingungen des Raums und der Zeit hinaus-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/30>, abgerufen am 29.03.2024.