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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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eines Kunstwerks indifferent wären; vielmehr es kann eine solche nur
geben, weil die Einführung und Anordnung derselben in Einem Zuge
mit der Grund-Idee erfolgen soll. Fehlt dieses innere Band, so wird
des Umgebenden und Beigesellten zu viel oder zu wenig, es wird zu
dürftig entwickelt oder zu anspruchsvoll seyn. Die Verkehrung des richtigen
Verhältnisses hat ihren Grund entweder darin, daß das Accidentielle durch
einen nachträglichen Act reflectirender Absichtlichkeit weiter ausgesponnen
wird, als sich ziemt; dieser Fehler ist ein ächt moderner und insbesondere
der Landschaftmalerei der Düsseldorfischen Schule vorzuwerfen: ein
Ausdüfteln, das immer noch mehr Gedanken in das Ganze hineintragen
will und es dadurch zerreißt; oder in der oben erwähnten Naivetät
einer Zeit, welche für die bereits erstarkte Richtung auf Genre und
Landschaft noch kein eigenes Bett gefunden hat. Geht jedoch das
Mißverhältniß so weit, daß geradezu das Höhere als Beiwerk zum
Niedrigeren erscheint, wie in den zu §. 493, 2. angeführten Beispielen
von Bassano und Andern, so gehört dieß in jenen, nicht in den
gegenwärtigen Zusammenhang. Das richtige Verhältniß kann übrigens
auch durch die Art der Ausführung verletzt sein, nämlich durch die
Wichtigkeit, welche die Behandlung einem Beiwerke gibt, z. B.
wenn in einem historischen Gemälde die. Reize einer doppelten Beleuch-
tung oder des Schimmers von Metall, Glas u. s. f. mit einer so
ausdrücklichen Virtuosität behandelt sind, daß sie die Aufmerksamkeit von
den Hauptgestalten und der Handlung ablenken; dieß ist ebenfalls
insbesondere ein moderner Fehler (z. B. die büßende Magdalena von
Maes). -- Zum Schluße sagt der §., es sei in der Composition nicht
blos das Verhältniß zwischen dieser accidentiellen und der substantiellen
Seite abzuwägen, sondern auch innerhalb jeder der beiden Seiten das
rechte Maaß zwischen dem Herrschenden und dem Untergeordneten zu
bestimmen. Was damit gemeint ist, bedarf nur eines Beispiels zur
Erläuterung. Es können in einem historischen Bild und in einem
Genrebild Bauwerke, innere häusliche Räume, Geräthe, Thiere auftreten,
in einer Landschaft als Staffage ebenfalls Bauwerke, Menschen, Thiere;
da muß nun der Charakter des Ganzen bestimmen, welche unter diesen
verschiedenartigen mitwirkenden Erscheinungen vorwiegt, wie es denn
z. B. einleuchtet, daß nicht jede Landschaft gleichmäßig stark hervorgehobene
Architectur und menschliche Staffage, daß nicht dasselbe historische Bild,
das einen gewissen Apparat an Baulichkeiten und Geräthen und die
Zugabe eines Hausthiers passend erscheinen läßt, darum das Vordringen
des letzteren verträgt u. s. w. Alle diese Bemerkungen finden ihre weitern
Belege in der Lehre von den einzelnen Künsten.


eines Kunſtwerks indifferent wären; vielmehr es kann eine ſolche nur
geben, weil die Einführung und Anordnung derſelben in Einem Zuge
mit der Grund-Idee erfolgen ſoll. Fehlt dieſes innere Band, ſo wird
des Umgebenden und Beigeſellten zu viel oder zu wenig, es wird zu
dürftig entwickelt oder zu anſpruchsvoll ſeyn. Die Verkehrung des richtigen
Verhältniſſes hat ihren Grund entweder darin, daß das Accidentielle durch
einen nachträglichen Act reflectirender Abſichtlichkeit weiter ausgeſponnen
wird, als ſich ziemt; dieſer Fehler iſt ein ächt moderner und insbeſondere
der Landſchaftmalerei der Düſſeldorfiſchen Schule vorzuwerfen: ein
Ausdüfteln, das immer noch mehr Gedanken in das Ganze hineintragen
will und es dadurch zerreißt; oder in der oben erwähnten Naivetät
einer Zeit, welche für die bereits erſtarkte Richtung auf Genre und
Landſchaft noch kein eigenes Bett gefunden hat. Geht jedoch das
Mißverhältniß ſo weit, daß geradezu das Höhere als Beiwerk zum
Niedrigeren erſcheint, wie in den zu §. 493, 2. angeführten Beiſpielen
von Baſſano und Andern, ſo gehört dieß in jenen, nicht in den
gegenwärtigen Zuſammenhang. Das richtige Verhältniß kann übrigens
auch durch die Art der Ausführung verletzt ſein, nämlich durch die
Wichtigkeit, welche die Behandlung einem Beiwerke gibt, z. B.
wenn in einem hiſtoriſchen Gemälde die. Reize einer doppelten Beleuch-
tung oder des Schimmers von Metall, Glas u. ſ. f. mit einer ſo
ausdrücklichen Virtuoſität behandelt ſind, daß ſie die Aufmerkſamkeit von
den Hauptgeſtalten und der Handlung ablenken; dieß iſt ebenfalls
insbeſondere ein moderner Fehler (z. B. die büßende Magdalena von
Maes). — Zum Schluße ſagt der §., es ſei in der Compoſition nicht
blos das Verhältniß zwiſchen dieſer accidentiellen und der ſubſtantiellen
Seite abzuwägen, ſondern auch innerhalb jeder der beiden Seiten das
rechte Maaß zwiſchen dem Herrſchenden und dem Untergeordneten zu
beſtimmen. Was damit gemeint iſt, bedarf nur eines Beiſpiels zur
Erläuterung. Es können in einem hiſtoriſchen Bild und in einem
Genrebild Bauwerke, innere häusliche Räume, Geräthe, Thiere auftreten,
in einer Landſchaft als Staffage ebenfalls Bauwerke, Menſchen, Thiere;
da muß nun der Charakter des Ganzen beſtimmen, welche unter dieſen
verſchiedenartigen mitwirkenden Erſcheinungen vorwiegt, wie es denn
z. B. einleuchtet, daß nicht jede Landſchaft gleichmäßig ſtark hervorgehobene
Architectur und menſchliche Staffage, daß nicht daſſelbe hiſtoriſche Bild,
das einen gewiſſen Apparat an Baulichkeiten und Geräthen und die
Zugabe eines Hausthiers paſſend erſcheinen läßt, darum das Vordringen
des letzteren verträgt u. ſ. w. Alle dieſe Bemerkungen finden ihre weitern
Belege in der Lehre von den einzelnen Künſten.


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[31/0043] eines Kunſtwerks indifferent wären; vielmehr es kann eine ſolche nur geben, weil die Einführung und Anordnung derſelben in Einem Zuge mit der Grund-Idee erfolgen ſoll. Fehlt dieſes innere Band, ſo wird des Umgebenden und Beigeſellten zu viel oder zu wenig, es wird zu dürftig entwickelt oder zu anſpruchsvoll ſeyn. Die Verkehrung des richtigen Verhältniſſes hat ihren Grund entweder darin, daß das Accidentielle durch einen nachträglichen Act reflectirender Abſichtlichkeit weiter ausgeſponnen wird, als ſich ziemt; dieſer Fehler iſt ein ächt moderner und insbeſondere der Landſchaftmalerei der Düſſeldorfiſchen Schule vorzuwerfen: ein Ausdüfteln, das immer noch mehr Gedanken in das Ganze hineintragen will und es dadurch zerreißt; oder in der oben erwähnten Naivetät einer Zeit, welche für die bereits erſtarkte Richtung auf Genre und Landſchaft noch kein eigenes Bett gefunden hat. Geht jedoch das Mißverhältniß ſo weit, daß geradezu das Höhere als Beiwerk zum Niedrigeren erſcheint, wie in den zu §. 493, 2. angeführten Beiſpielen von Baſſano und Andern, ſo gehört dieß in jenen, nicht in den gegenwärtigen Zuſammenhang. Das richtige Verhältniß kann übrigens auch durch die Art der Ausführung verletzt ſein, nämlich durch die Wichtigkeit, welche die Behandlung einem Beiwerke gibt, z. B. wenn in einem hiſtoriſchen Gemälde die. Reize einer doppelten Beleuch- tung oder des Schimmers von Metall, Glas u. ſ. f. mit einer ſo ausdrücklichen Virtuoſität behandelt ſind, daß ſie die Aufmerkſamkeit von den Hauptgeſtalten und der Handlung ablenken; dieß iſt ebenfalls insbeſondere ein moderner Fehler (z. B. die büßende Magdalena von Maes). — Zum Schluße ſagt der §., es ſei in der Compoſition nicht blos das Verhältniß zwiſchen dieſer accidentiellen und der ſubſtantiellen Seite abzuwägen, ſondern auch innerhalb jeder der beiden Seiten das rechte Maaß zwiſchen dem Herrſchenden und dem Untergeordneten zu beſtimmen. Was damit gemeint iſt, bedarf nur eines Beiſpiels zur Erläuterung. Es können in einem hiſtoriſchen Bild und in einem Genrebild Bauwerke, innere häusliche Räume, Geräthe, Thiere auftreten, in einer Landſchaft als Staffage ebenfalls Bauwerke, Menſchen, Thiere; da muß nun der Charakter des Ganzen beſtimmen, welche unter dieſen verſchiedenartigen mitwirkenden Erſcheinungen vorwiegt, wie es denn z. B. einleuchtet, daß nicht jede Landſchaft gleichmäßig ſtark hervorgehobene Architectur und menſchliche Staffage, daß nicht daſſelbe hiſtoriſche Bild, das einen gewiſſen Apparat an Baulichkeiten und Geräthen und die Zugabe eines Hausthiers paſſend erſcheinen läßt, darum das Vordringen des letzteren verträgt u. ſ. w. Alle dieſe Bemerkungen finden ihre weitern Belege in der Lehre von den einzelnen Künſten.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/43>, abgerufen am 19.04.2024.